Buchcover Wolf

Als Kemis Mutter verkündet, dass Kemi seine Ferienwoche in einem Ferienlager im Wald verbringen...

Rezensiert von PD Dr. Nicola König

Ferienlager im Wald bedeuten für die meisten Abenteuer, Freiheit und Lagerfeuerromantik. Kemi aber hasst Natur, findet Bäume nur als Schränke super und Wandern in der Gruppe die unfreiheitlichste aller Freizeitbeschäftigungen. Für eine Woche ist er nicht nur den Mücken, seinem Heimweh und den überambitionierten Waldpädagogen ausgesetzt, er muss auch miterleben, wie sein Zimmergenosse Jörg permanent Mobbingattacken ausgeliefert ist. Und er muss sich dazu verhalten, denn er spürt, dass er das nächste Opfer sein könnte. Zutiefst komisch und nachdenklich zugleich.

BuchtitelWolf
AutorSaša Stanišić, illustr. v. Regina Kehn
GenreAbenteuer
Coming of Age
Lesealter12+
Umfang186 Seiten
Edition5. Auflage
VerlagCarlsen
ISBN978-3551652041
Preis14,00 €
Erscheinungsjahr2023

Als Kemis Mutter verkündet, dass Kemi seine Ferienwoche in einem Ferienlager im Wald verbringen soll, ist er entsetzt: Denn er hasst nicht nur Outdoor-, sondern auch Gruppenaktivitäten. Doch es führt kein Weg an Nachtwanderungen, Basteleien, Lagerfeuern und Gruppenduschen vorbei; seine alleinerziehende Mutter hat ein Betreuungsproblem während der Ferien. 

Aber Kemi fürchtet sich nicht nur vor den überambitionierten Pädagog*innen, die den Wald zum Erlebnisort machen möchten. Es sind vor allem seine Klassenkamerad*innen, denen er nicht auch noch in den Ferien begegnen möchte. Und so muss er sich das Zimmer mit dem zweiten Außenseiter der Gruppe teilen: Jörg. Dieser ist für ihn zunächst die Rettung; wäre Jörg nicht dabei, wäre wahrscheinlich Kemi das Opfer. Denn auch Kemi ist schwierig, besserwisserisch, mag kaum etwas, was Gleichaltrige mögen, und ist zudem noch gut in der Schule. Der perfekte Kandidat zum „Andersig“, zum Ausleben von Aggression. 

Aber Jörg ist dabei, und so bekommt er die hintertückischen Attacken Marcos ab. Und alle – Mitschüler*innen und Erzieher*innen – schauen weg. Kemi aber wohnt mit ihm zusammen, ist viel zu nah dran, um die Mobbingattacken nicht mitzukommen. Und er muss sich dazu positionieren. Dabei kämpft er gegen seinen inneren Wolf an, der immer nachts auftaucht und die Ereignisse des Tages sichtbar werden lässt: „Die Unsicherheiten. Das Glück. Das Bestehen von Prüfungen, das Bestehen von Einsamkeiten, von Stromausfällen. Das Scheitern, das Gelingen. Wolf.“ 


Der erste Jugendroman des Bestsellerautors Saša Stanišić hat das Potenzial zum Klassiker – auch als Schullektüre. Der Roman zieht die Leser*innen in seinen Bann und erzeugt einen Lesesog. Das liegt an Inhalt, Aufbau und Stil gleichermaßen. Die Geschichte der Jugendlichen im Ferienlager weist zunächst die typischen Elemente eines Abenteuerromans auf: Das Heimweh muss überwunden, der Platz in der Gruppe gefunden und die Aufgaben in der Natur bestanden werden. Ort und Zeit – genau eine Woche des Ferienlagers – sind überschaubar, ebenso das Figureninventar des Romans. Die Figur Kemi als Kandidat zum „Andersig“ wird differenziert, ironisch und vor allem komisch dargestellt und ermöglicht ein Einfühlen: Ein Junge, der sein T-Shirt zum Trocknen in den Toaster steckt, und der vor allem überlebt, weil seine Klasse ihn ignoriert. 

Aber es ist auch eine Geschichte von Ausgrenzung. Denn wäre Jörg nicht da, wäre Kemi das Opfer. Und in diesem Kontext entfaltet der Roman neben den komischen Passagen seine besondere Qualität. Denn Stanišić moralisiert und wertet nicht. Er lässt Kemis inneren Wolf auftreten, seinen persönlichen Albtraum. Wie Kemi sich im Wald, in der Gruppe und vor allem zu den Anfeindungen gegenüber Jörg verhalten soll, ist ein tastender Prozess: „Die Geschichte könnte jetzt auf viele Weisen weitergehen…“ Stanišić wählt in seinem Roman nicht die großen Gesten und Ereignisse; er setzt auf Alltägliches und genaue Beobachtungen; besonders wenn er die Ausgrenzungen Marcos gegenüber Jörg beschreibt und sich des Phänomens des Mobbings annimmt: „Oder anders: Man lässt ihn auffallen. Wie? Indem man alles, was er macht, schlechtmacht. Kann auch das Normalste der Welt sein.“  Diese Stellen bieten Gesprächsanlässe, lassen beim Lesen innehalten, aber erheben nicht den moralischen Zeigefinger.


Neben den drei Hauptfiguren – Kemi, Jörg sowie der mobbende Marco – spielen vor allem die Erwachsenen eine wichtige Rolle; sie sind detailreich und komisch gezeichnet und bilden eine große Bandbreite der Gesellschaft ab: So zum Beispiel die Zirkuspädagogin, die sich den Mobbingattacken Marcos entgegenstellt: „Die Aktion war pädagogisch hundertpro komplett daneben, aber Jörg wurde danach nicht mehr verspottet. […] Bitter eigentlich, dass wir eine Lehrerin brauchen, um etwas, das vor unseren Augen stattfindet, wirklich zu sehen.“ Oder die Wikipedia zitierende Waldpädagog:innen, die vorrangig mit sich selbst beschäftigt sind. Oder die schrullige Försterin, die statt Erlebnispädagogik Weltuntergangsszenarien entwirft. Und nicht zuletzt der kotzende Koch, der Marcos Verhalten nicht einfach hinnimmt.


Die Sprache des Romans selbst ist einfach, gut verständlich, klar und dabei sehr eindringlich und poetisch: „Jörg schattiert, Jörg radiert, Jörg tut das, was Jörg irre gut kann: Jörg zeichnet. Jörg zeichnet Jörg über den Strichmännchenjörg.“ Zahlreiche Neologismen lassen die Lesenden immer wieder innehalten und schmunzeln, verhindern aber nicht ein grundsätzliches Verständnis. Dies betrifft neben der Wortwahl und dem Satzbau auch die Perspektive – die Geschichte ist in der Ich-Form aus der Perspektive Kemis wiedergegeben – und die relative Kürze der Kapitel (zwischen 4 und 20 Seiten), die leserfreundliche Abschnitte bilden. Während also die Textkomplexität – auch aufgrund der chronologischen Erzählweise – insgesamt eher niedrig ist, öffnet sich beständig eine zweite Erzählebene. Die Illustrationen von Regina Kehn unterhalten, unterstreichen dabei die poetische Dimension des Romans und verweisen sanft auf eine weitere Lesart des Romans: auf den Wolf in einem selbst. Der Roman ist somit sowohl gleichermaßen für ungeübtere wie für geübte Leser*innen geeignet.


Auf der Textoberfläche präsentiert sich der Roman zunächst einfach, was auch aufgrund seines überschaubaren Umfangs eine selbstständige Lektüre erleichtert und ermöglicht. Der gleich zu Beginn einsetzende Spannungsbogen und die Dominanz der Abenteuergeschichte schaffen zudem einen schnellen Zugang zum Roman. Dies wird noch unterstützt durch die zahlreichen komischen Passagen, die nicht nur die Situation und damit auch die Handlung, sondern vor allem auch den Protagonisten selbst betreffen. Hier erlaubt vor allem Komik einen distanzierten Blick auf die Hauptfigur, obwohl in der Ich-Form erzählt wird. Dies könnte vor allem den Leser*innen die Lektüre und den Zugang erleichtern, die sich eher an starken und dominanten Helden orientieren.

Die der Geschichte zugrundeliegende Poetizität und literarische Qualität aber erlauben den Leser*innen einen vertieften Einblick in die Figuren, ihre Probleme und Sichtweisen. Dabei stellt diese Lesart weniger eine Hürde, sondern vielmehr eine zusätzliche Dimension bzw. ein erweitertes Angebot dar. So wird durch die Figur bzw. das Symbol des Wolfes ein Innehalten möglich. Ob dieser schlicht als Albtraum oder aber als Symbol gedeutet wird, kann von den Lesenden selbst entschieden werden. Hier zeigt sich das Potential des Romans für eine Lektüre im Deutschunterricht: Gemeinsam kann sich nicht nur der Figur des Wolfes, sondern auch der Frage der Zivilcourage in Mobbingkontexten genähert werden.