Rezensiert von Martina Frey-Walter
Bei einem schrecklichen Sturm auf dem Meer bringt sich der 13-jährige Bill als Einziger von einer sinkenden Jacht auf ein Rettungsboot in Sicherheit. Während des mühsamen Kampfes ums Überleben auf dem erbarmungslosen Meer rettet er das Berbermädchen Aya, das bewusstlos in einer Tonne treibt, zu sich aufs Boot. Gemeinsam und mit Hilfe von Ayas hoffnungsvollen Geschichten aus 1001 Nacht gelingt es ihnen, den Gefahren und Schrecken ihres gefährlichen Abenteuers entgegenzutreten. Ein spannender Roman, der zwei ganz unterschiedliche Geschichten einer Reise miteinander verknüpft und damit auch Brücken zwischen Kulturen schlägt
Buchtitel | Allein auf dem Meer |
Autor | Chris Vick |
Genre | Abenteuer Coming of Age |
Lesealter | 12+ |
Umfang | 269 Seiten |
Edition | 1. Auflage |
Verlag | Beltz&Gelberg |
ISBN | 9783407756428 |
Preis | 15,00 € |
Erscheinungsjahr | 2022 |
Vor der Küste Marokkos gerät der Südengländer Ben in ein furchtbares Unwetter. Er findet sich alleine auf der weiten See wieder. Nur ein Rettungsboot und wenige Utensilien bleiben ihm zum Überleben. Einige Tage treibt Ben verloren auf dem Ozean umher, bis er ein Fass entdeckt, das auf der Wasseroberfläche treibt. Doch überraschenderweise ist selbiges keineswegs leer, wie zuerst vermutet, sondern verbirgt im Inneren ein Mädchen, welches kaum noch zu atmen scheint: Aya.
Die folgende Zeit, die die beiden Jugendlichen alleine auf dem Meer verbringen, gestaltet sich zuerst sehr schwierig. Das Berbermädchen und der Engländer bemühen sich um Verständigung - durch den Einsatz von Gesten, kombiniert mit einigen Lauten. Doch je mehr Zeit vergeht und gegenseitiges Vertrauen wächst, desto besser gelingt die gegenseitige Kommunikation.
Obwohl Aya sehr ängstlich und wenig über ihr Leben zu erzählen bereit ist, teilt sie ihre besondere Gabe mit Ben, das Erzählen von Geschichten aus 1001 Nacht. Immer dann, wenn Angst, Verzweiflung und Mutlosigkeit über Ben hereinbrechen, ist es Aya, die ähnlich wie Scheherazade ihr bevorstehendes Ende durch das Spinnen von Geschichten verzögert, was den beiden erlaubt, eine kurze Zeit lang aus der scheinbar ausweglosen Situation zu entfliehen.
Als die Vorräte ausgehen, sind es der Überlebenswille des Berbermädchens Aya und die Cleverness von Ben, die es ermöglichen, Nahrung zu beschaffen. Nur durch die Vereinigung ihrer gegenseitigen Fähigkeiten und Fertigkeiten gelingt es, die gemeinsame Odyssee zu bewältigen.
Eine Leseprobe kann hier eingesehen werden.
Einen Adoleszenzroman mit weiblichem und männlichem Protagonisten im Setting eines Leseförderprojekts für Jungen auszuweisen ist mutig? Keineswegs.
Allein auf dem Meer von Chris Vick bedient nicht nur die Lesebedürfnisse abenteuerhungriger Leser*innen, die ohne Seemonster und fantastischen Beifang auskommen, sondern schafft eine Rahmenerzählung, die durchaus real anmutet. Vor dem Hintergrund der Diskussion um das Flüchtlingsgeschehen in aller Welt kann die Begegnung beider Jugendlicher erheblich zu einer Vermittlung der unterschiedlichen Kulturkreise beitragen und das Interesse an den Auswirkungen auf das persönliche Leben eines jeden Geflüchteten evozieren. Aya sieht sich in ihrer alten Heimat durch einen Warlord bedroht und beschreibt im Laufe der Handlung ganz konkrete Ängste. Diese Offenheit ist es auch, die Ben in Sachen Empathie schult und einen großen Beitrag zu seinem persönlichen Reifeprozess leisten. Das Mitfühlen und Verstehen der Motivation, die einer Flucht vorausgehen, werden unkompliziert, aber ganz direkt beschrieben. Der große Wert von Allein auf dem Meer besteht ganz sicher auch darin, das Fremderleben auf einer ganz außergewöhnlichen Reise zu ermöglichen.
Der Roman entführt die Leser*Innen in eine vollkommen andere Welt. Der sofortige spannende Einstieg, der sich durch den Schiffbruch gleich zu Beginn der Handlung ergibt, vermag es, auch Lesemuffel direkt in das Geschehen zu ziehen. Eine Reise über den weiten Ozean birgt eine sehr konkrete Problematik, nämlich die des eigenen Überlebens und dies nicht nur im körperlichen Sinne. Der psychische Druck, die Angst vor einem tödlichen Ende der eigenen Odyssee muss auch psychisch verkraftet werden. Ben erlebt nicht nur die Gezeiten ganz extrem, kämpft mit Sonnenbrand und Austrocknung, sondern sieht sich zudem gezwungen die eigenen Gedanken zu kontrollieren und entwickelt sich auf diese Weise zu einem starken Partner für Aya. Es handelt sich daher um eine Geschichte, welche den Prozess der Mann-Werdung ganz konkret thematisiert.
Die 269 Seiten sind für geübte Leser*innen schnell zu lesen. Durch die regelmäßige Einbindung von Geschichten aus 1001 Nacht birgt der Titel stetig wiederkehrende Überraschungssequenzen, die unserem westlichen Kulturkreis die Möglichkeit bieten, orientalische Literatur gewinnbringend verstehen zu lernen. Deshalb ist mit geringfügigem zeitlichem Mehraufwand eine begleitete Lektüre beispielsweise im Rahmen eines Schul- oder Leseförderprojekts zum Thema Interkulturalität definitiv zu empfehlen.
„Inschallah“ – „So Gott will.“
Diese Floskel aus dem arabischen Kulturkreis zieht sich wie ein roter Faden durch den Titel. Auch bei Jugendlichen aus dem arabischen, albanischen, türkischen sowie dem Kulturkreis der Sinti und Roma ist diese Wendung im täglichen Sprachgebrauch anzutreffen. Ebenso bedient sich die aktuelle Musikszene regelmäßig des Wortfelds ursprünglich arabischer Ausrufe und verwebt diese in ihre Texte, so dass auch deutsche Jugendliche in ihrem Alltag damit in Berührung kommen. Folglich bietet der Roman Anknüpfungspunkte für eine Auseinandersetzung auf sprachlich-kultureller Ebene – jenseits klischeehaften Milieudenkens.
Allein auf dem Meer verknüpft die westliche und arabische Kultur in einer gelungenen literarischen Gestaltung. Chris Vick thematisiert in seinem Coming-of-Age-/Abenteuerroman die besondere Tragweite interkultureller Vernetzung und Verständigung und bezieht dabei höchst aktuelle Themen etwa das Flüchten über den Meeresweg oder den Menschenhandel ein.
Prädikat besonders wertvoll!
Für interkulturelle Lesefördermaßnahmen kann Allein auf dem Meer sicherlich große Dienste erweisen. Da Interkulturalität im Setting (Kinder- und Jugend-)Literatur immer auch mit Aspekten der Sprachbetrachtung korreliert, stellt die Kommunikation zwischen den Protagonist*innen den Mehrwert von Sprache in unserer globalisierten Welt besonders heraus. Die gegenseitige Unterstützung und das gemeinsame ‚Ringen nach Worten‘ reflektiert sinnbildlich die besonderen Schwierigkeiten, die sprachliche Barrieren für Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund darstellen. Gleichzeitig jedoch ist es die Sprache, die während der gesamten Handlung Beziehung schafft und somit das Überleben sichert. Das Buch eignet sich daher als Unterrichtslektüre, auch im Vergleich mit anderen literarischen Fluchtgeschichten. Ebenso lässt sich der Roman in intertextueller Perspektive lesen, denn Vernetzung der Erzählungen um Scheherazade eröffnet den Zugang zu orientalischen Märchen für europäische Leser*innen.
NACHTRAG: Zu diesem Titel gibt es nun auch Materialien für den Schulunterricht.