Buchcover Der Tunnelbauer

Kurz nach dem Mauerbau gelingt dem Abiturienten Achim mit einem falschen Pass gerade noch die Flucht...

Berlin 1961: Die Mauer wird gebaut. Achim gelingt die Flucht mit einem falschen Pass. Er engagiert sich bei der Gruppe, die Pässe für diesen Zweck organisiert – aber dieser Weg wird entdeckt. Da entwickelt Achim, der inzwischen Bauingenieurswesen studiert, gemeinsam mit anderen einen zuerst unmöglich erscheinenden Plan… Nach einer wahren Geschichte von Maja Nielsen erzählt der Roman packend über die Tunnelfluchten aus der DDR.

BuchtitelDer Tunnelbauer
AutorMaja Nielsen
GenreGegenwart & Zeitgeschichte
Lesealter14+
Umfang170 Seiten + Anhang mit Glossar
Edition2. Auflage
VerlagGerstenberg
ISBN978-3-8369-6230-8
Preis14,00 €
Erscheinungsjahr2024

Kurz nach dem Mauerbau gelingt dem Abiturienten Achim mit einem falschen Pass gerade noch die Flucht von Ost- nach Westberlin. Er unterstützt im Anschluss die Fluchthelfer*innengruppe, diese wird aber kurz darauf an die Stasi verraten. Seine Schwester Bea und deren beste Freundin lässt Achim in einem umgebauten Auto über die Grenze schmuggeln. Eine dritte Freundin, Chris, Achims große Liebe, bleibt jedoch zunächst in der DDR zurück. Sie wird von der Stasi unter Druck gesetzt und dazu gezwungen, ihr Umfeld auszuspionieren; einige Zeit verbringt sie in Haft. Um sie wiederzusehen und anderen Fluchtwilligen zu helfen, setzt Achim, der inzwischen Bautechnik studiert, mit einigen anderen einen riskanten Plan um: Sie graben Fluchttunnel, die in Westberlin beginnen und im Osten in verlassenen Häusern enden. Trotz technischer Schwierigkeiten, z.B. weil das Grundwasser in die Tunnel steigt, gelingt es Achim schließlich, Chris zu sich zu holen – im Rahmen einer Tunnelflucht, bei der insgesamt 57 Personen in den Westen kommen. 

Eine Leseprobe kann hier eingesehen werden.

Maja Nielsens Roman greift ein spannendes Thema aus der noch nicht so lange vergangenen deutsch-deutschen Geschichte auf: Ausgehend von den realen Erlebnissen von Joachim Neumann, der insgesamt an sechs Tunneln mitgearbeitet hat, erzählt sie von der Situation Jugendlicher in Berlin am Beginn der 60er Jahre, die mit der plötzlichen Abriegelung zwischen Ost- und Westberlin zurechtkommen müssen.

Aufgrund des engen Realitätsbezugs und der historischen Bezüge kann der Roman auch Heranwachsende ansprechen, die sich sonst wenig für Fiktionales interessieren. Dazu trägt bei, dass Nielsen, die in erster Linie als Sachbuchautorin bekannt ist, in neutral-sachlichem, gut zugänglichem Stil schreibt. Weniger bekannte Begriffe werden teils in Dialogen zwischen den Figuren aufgegriffen und textintern erklärt. So fragen sich Achim und sein Freund Hase beispielsweise, was eigentlich ein „Rädelsführer“ sein soll, als sie einen Brief an die Staatsanwaltschaft schreiben, um einen weiteren Freund zu entlasten. Diesem soll wegen einer Auseinandersetzung unter Jugendlichen der Prozess gemacht werden. Eine passende Definition suchen sie aus einem Lexikon heraus (vgl. S. 35) und stellen sie so gleichzeitig der lesenden Person zur Verfügung. Das Verständnis wird zusätzlich dadurch unterstützt, dass dem Roman ein umfangreicher Anhang beigefügt ist, der Informationen zu den historischen Hintergründen der Romanhandlung, eine Chronik zu den Ereignissen rund um die Berliner Mauer bis 1990 sowie ein Glossar zu weiteren Kontexten enthält. Im vorderen Spiegel wird eine Karte angeboten, in der die im Roman beschriebenen Tunnel verzeichnet sind, der hintere Spiegel enthält historische Fotos zu den Tunnelbauaktivitäten. Die Orientierung im Roman wird auch dadurch erleichtert, dass Schauplatzwechsel zwischen Ost- und Westberlin jeweils in den Kapitelüberschriften markiert sind.

Ein weiterer Vorteil in Bezug auf den Einsatz des Romans im Bereich Leseförderung ist, dass der Roman trotz der hohen Ereignisdichte mit gerade 170 Seiten schmal ausfällt. Die Kapitel umfassen teils nur zwei bis drei Seiten, maximal sieben bis acht. Auch wenn teilweise historisches Vokabular oder DDR-typisches Behördendeutsch enthalten sind, bewegen sich die Anforderungen an technische Lesefertigkeiten auf einem gut zu bewältigenden, mittleren Niveau – dazu tragen die vielen Dialoge bei wie auch die Tatsache, dass die meisten Kapitel im Präsens verfasst sind. Die einzige Ausnahme bilden wenige Rückblenden am Beginn, die erzählen, aus welchen Gründen sich Achim dazu entschied, in den Westen zu gehen.

Auch inhaltlich überzeugt Nielsens Herangehensweise an die Thematik: Ausgangspunkt des Romans sind historische Ereignisse. Nielsen bearbeitete den Stoff in Kooperation mit Joachim Neumann, einem der am Tunnelbau Beteiligten, unter Bezugnahme auf dessen Lebensgeschichte. Der Gestaltungsspielraum in Bezug auf Handlungsentwicklung und Figurenzeichnung ist entsprechend begrenzt. Obwohl also die großen Linien gesetzt sind, gelingt es Nielsen, das Bild zu differenzieren: So verschweigt sie nicht Behördenwillkür und Schikanen gegenüber Jugendlichen, die für Achim und seine Freunde der Grund sind, das Land zu verlassen. In verschiedenen Dialogen zwischen den Jugendlichen wird jedoch andererseits deutlich, dass sie bestimmte Aspekte der DDR schätzen. Gleichzeitig treten im Osten bleibende sympathische Figuren auf. Genauso werden die Fluchten nicht unkritisch verherrlicht, sondern ehrlich als extreme Stress- und Krisensituation dargestellt, und die Situation, die dadurch innerhalb von Familien und Freundeskreisen sowohl für Gehende als auch für Bleibende entsteht, wird als große Belastung beschrieben.

Fazit: Der Tunnelbauer ist ein starker Roman über wichtige Ereignisse, der sich schnell und leicht lesen lässt und der hoffentlich lange nachwirkt – für Geschichtsfans und solche, die es werden wollen!

Der Verlag selbst präsentiert den Roman als Unterrichtslektüre und bietet kostenfreies Unterrichtsmaterial dazu an. In diesem Zusammenhang ist auch das online zur Verfügung stehende Zeitzeugeninterview mit Joachim Neumann aufgenommen worden. Im Bereich Schule kann der Roman dabei nicht nur im Fach Deutsch, sondern ebenso im Fach Geschichte seinen Einsatz finden: Während er in Geschichte geeignet ist, um die Auswirkungen des Mauerbaus bzw. die Reaktionen der Bevölkerung zu illustrieren, lässt sich im Fach Deutsch ausgehend davon auch diskutieren, mit welchen Mitteln im Roman eine Fiktionalisierung der Ereignisse angestrebt wird und was Gründe dafür sein können. Besonders bietet sich die gemeinsame Lektüre – oder ggf. auch ein Referat zum Roman – dann an, wenn ein lokaler Bezug gegeben ist, also z.B. wenn eine Klassenfahrt nach Berlin ansteht.

Als Freizeitlektüre kann der Text vor allem Geschichtsinteressierten angeboten werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Coverbild zwar auf einem der historischen Fotos basiert, in der Wirkung aber nicht besonders ansprechend bzw. spektakulär ist: Jugendliche müssen vermutlich eher gezielt auf den Band aufmerksam gemacht werden, als dass sie von selbst ohne Kontextwissen spontan dazu greifen.