Rezensiert von Dr. Emmanuel Breite
Ein Konflikt, der unlösbar erscheint. Vier Schicksale, geprägt von Terror, Wut und Verzweiflung. In Jerusalem begegnen sich die Jüdin Tessa und der Palästinenser Mo. 70 Jahre später: Die israelische Soldatin Anat trifft auf den Palästinenser Karim. Eindringlich werden in Dialogen die Erwartungen und Enttäuschungen auf beiden Seiten des Nahostkonflikts geschildert. Doch die Verbindung zwischen den vier Schicksalen macht – in Anbetracht der aktuellen Ereignisse und ihrer Folgen – auch ein Stück Hoffnung.
Buchtitel | Über den Dächern von Jerusalem |
Autor | Anja Reumschüssel |
Genre | Gegenwart & Zeitgeschichte |
Lesealter | 14+ |
Umfang | 331 Seiten |
Edition | 1. Auflage |
Verlag | Carlsen Verlag |
ISBN | 978-3-551-58514-1 |
Preis | 16,00 Euro |
Erscheinungsjahr | 2023 |
In den späten 1970er Jahren begegnen sich in Jerusalem die 15-jährige Tessa, die als einzige ihrer Familie den Holocaust überlebt hat, und der gleichaltrige Palästinenser Mo, dessen Vater bei einem Anschlag der radikal-zionistischen Terrororganisation Irgun ums Leben gekommen ist. In einer Situation, die von einem bürgerkriegsähnlichen Konflikt zwischen Juden und Palästinensern geprägt ist, treffen sich die beiden regelmäßig über den Dächern von Jerusalem. Dort reden sie, diskutieren sie und hören einander zu – bis sie sich eines Tages aus den Augen verlieren. 70 Jahre später treffen Anat, eine 18-jährige israelische Soldatin, und Karim, ein junger Palästinenser, in der Wüste aufeinander. Beide helfen sich aus einer für den jeweils anderen schwierigen Situation. Auch sie nähern sich auf Dauer vorsichtig einander an. Am Ende des Romans stellt sich heraus, dass es eine Verbindung zwischen ihren Familien gibt.
Die Leseprobe kann hier eingesehen werden.
Ist es möglich, in einem Jugendroman den komplexen Nahostkonflikt literarisch aufzuarbeiten? Dieser Herausforderung hat sich Anja Reumschüssel in ihrem Debütroman Über den Dächern von Jerusalem gestellt. Einfühlsam und mitreißend schildert sie darin vier Schicksale, die alle zutiefst geprägt sind vom grausamen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Der journalistische Hintergrund der Autorin kommt dabei immer wieder deutlich zum Vorschein: Die Leser*innen erfahren in Dialogen und sehr streitbaren Diskussionen eine Unmenge an Fakten zur Entstehung des Staates Israel, zur Vertreibung der Palästinenser, zur Radikalisierung auf beiden Seiten, zum radikalislamischen Terror, zum Bau der Israelischen Sperranlage entlang der Grenzlinie zwischen Israel und Westjordanland, zur Einrichtung von Flüchtlingscamps, in denen Palästinenser zum Teil auch heute noch leben. Gekonnt integriert Reumschüssel historiographisch-reportagenhafte Darstellungselemente in die fiktionale Erzählung, ohne dabei den literarischen Anspruch zu vernachlässigen.
Das Buch eignet sich für politisch und am aktuellen Zeitgeschehen interessierte Leser*innen. Indem der Roman zahlreiche politische, gesellschaftliche und historische Informationen anführt, spricht er insbesondere männliche Jugendliche als Leser an, die häufig eher auf Sachtexte zurückgreifen.
Die im Roman geschilderten extremen Erfahrungen der Protagonist*innen und die dargestellten Krisen und Gewaltakte übersteigen den Lebenshorizont der meisten Leser*innen räumlich wie zum Teil auch zeitlich. Das Buch behandelt brisante Themen wie Gewalt, Krieg und Flucht und ermöglicht somit eine Auseinandersetzung mit Grenzerfahrungen jenseits des Alltäglich-Normalen. Auf diese Weise bringt der Roman den jugendlichen Leser*innen einen komplexen zeitgeschichtlichen Konflikt näher und stillt damit auch deren Bedürfnis nach informierter Partizipation und sozialer Teilhabe.
Das Buchcover ist sehr schlicht gehalten. Es zeigt am unteren Rand die Silhouette einer Dachlandschaft und korrespondiert folglich mit dem Titel des Romans, der den Bucheinband dominiert. Der Titel wiederum erstreckt sich über zwei sich überschneidende Kreise, die als Sinnbild für Dialog und Verständigung gelesen werden können.
Mit etwas mehr als 300 Seiten fällt der Roman zwar umfangreich aus, die im Durchschnitt eher kurzen Kapitel sowie die mittlere Schriftgröße bzw. der mittlere Zeilenabstand erlauben jedoch eine unbeschwerte Lektüre, die auch problemlos unterbrochen werden kann. Eine Besonderheit des literarischen Textes ist es, dass aus vier verschiedenen Perspektiven erzählt wird und die Handlung zu unterschiedlichen Zeiten spielt. Der Roman ist jedoch so aufgebaut, dass die beiden Zeit- bzw. Handlungsebenen auf genau zwei Hälften verteilt sind: Die erste Romanhälfte spielt in den späten 1940er Jahren, die zweite Romanhälfte ist in der Gegenwart angesiedelt. Zusätzlich können die beiden Handlungsebenen auch dadurch unterschieden werden, dass der Text jeweils in einer anderen Schriftart steht. Ebenso ist das mehrperspektivische Erzählen deutlich markiert: Jedes Kapitel wird aus einer der vier Perspektiven erzählt, wobei der Name der jeweiligen Figur, die erzählt, die Kapitelüberschrift bildet.
Sprache und Satzstruktur sind eher einfach gehalten. Es dominieren kurze und klare Sätze. Der Text enthält etliche arabische und hebräische Begriffe und Redewendungen, deren Bedeutung die Leser*innen dem beigefügten Glossar entnehmen können.
Mit Über den Dächern von Jerusalem legt Anja Reumschüssel ein Buch vor, das nicht nur informativ ist, sondern auch literar-ästhetische Qualitäten aufweist. Die Strategie, dem Israel-Palästina-Konflikt in Form von vier Schicksalen ein Gesicht zu geben und die Geschehnisse aus unterschiedlichen Perspektiven schildern und bewerten zu lassen, erweist sich als kluge Entscheidung. Die Botschaft des Romans ist unmissverständlich: Vorrausetzung für politische Lösungen sind der Dialog und die Bereitschaft, beide Seiten des Konflikts anzuhören und ernst zu nehmen.
Aufgrund der komplexen Thematik, mit der sich der Roman befasst, spricht vieles für eine didaktische Vor- bzw. Nachbereitung sowie eine unterrichtliche Begleitung der Lektüre. Aufgrund der Vielschichtigkeit der Problematik, die der Roman behandelt, eignet sich das Buch aber weniger als Klassenlektüre, sondern erfordert eher einen fächerübergreifenden Zugang, beispielsweise in Form eines gemeinsamen Schulprojekts im Verbund mit Schulfächern wie Deutsch, Geschichte, Religion bzw. Ethik oder Gemeinschaftskunde bzw. Politik. Im Deutschunterricht kann beispielsweise das Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität erkundet werden oder das multiperspektivische Erzählen zum Gegenstand gemacht werden.
Das Buch sollte aber auch in keiner Klassen- oder Schulbücherei fehlen. Über den Dächern von Jerusalem bietet angemessenen Lesestoff für Jugendliche, die sich besonders für Politik und Zeitgeschichte interessieren. Auch wenn sich das Buch mit komplexen und sensiblen Themen beschäftigt, wird kein Vorwissen vorausgesetzt: Der Roman bietet eine Menge an Informationen und Fakten, die für die Altersstufe verständlich aufbereitet sind, und erörtert ausführlich die politischen, religiösen und historischen Faktoren des Nahostkonflikts.