Buchcover Akram El-Bahay: Fabula – Das Portal der dreizehn Reiche

Die 13-jährigen Zwillinge Will und Charlotte leben mit ihrer Mutter in New York. Bei einem...

Rezensiert von Anja Sieger

Warum gibt es Märchen? Und woher wissen ihre Erzähler von Feen, Trollen, Zwergen, Riesen und anderen Fabelwesen? Sie sind ihnen doch niemals begegnet. Oder vielleicht doch? Wer eintaucht in die fantastische Welt von Fabula, erhält überraschende Antworten auf all diese Fragen und begibt sich zugleich mit Will und seiner Schwester auf ein höchst spannendes, actionreiches und mitunter auch gruseliges Abenteuer.

BuchtitelFabula – Das Portal der dreizehn Reiche
AutorAkram El-Bahay
GenreFantastische Literatur
Lesealter10+
Umfang346 Seiten
Edition1. Auflage
VerlagBaumhaus
ISBN978-3-8339-0699-2
Preis14,99 €
Erscheinungsjahr2022

Die 13-jährigen Zwillinge Will und Charlotte leben mit ihrer Mutter in New York. Bei einem Schulausflug in den Central Park wird Will auf einen außergewöhnlichen Baum, um den seltsame Wesen fliegen, aufmerksam. Diese entpuppen sich wenig später als Sirenenelfen, die den Zugang zur fantastischen Welt von Fabula bewachen. Als die Mutter der Zwillinge verschwindet und an ihrer Stelle eine Furie in ihrer Wohnung auf sie wartet und sie bedroht, hilft ihnen eine der Elfen und weist ihnen den Weg zum Baum. Die Geschwister gelangen so nach Fabula. Dieses besteht aus 13 Reichen, die jeweils von einer Fee regiert werden. Sie sind Will bereits bekannt aus einem Notizbuch seines Vaters, welches den Titel „Die dreizehn Feenkreiszeichen Fabulas. Gesehen und beschrieben von Philipp Grimm“ trägt und neben Texten auch Zeichnungen von Fabelwesen enthält. Philipp Grimm ist bereits seit 10 Jahren verschwunden. Auf der Suche nach ihrer Mutter werden die Geschwister u.a. durch den Jäger Orion und den Zwerg Hoin unterstützt und sie erfahren, dass das Bestehen von Fabula bedroht und ihre Mutter deshalb hierher verschleppt worden ist. Es stellt sich heraus, dass sie die verlorene Fee ist, die aufgrund ihrer Liebe zu Philipp Grimm Fabula vor langer Zeit verlassen hat. Menschen wie dieser haben als Erzähler Zugang zur fantastischen Welt, da diese nur Bestand haben kann, wenn von ihr in der Menschenwelt erzählt wird. Nachdem ihre Mutter Fabula verlassen hat, kommen aber auch keine Erzähler mehr dorthin, sodass dieses immer mehr schrumpft. Die Magie der Mutter ist jedoch auf Charlotte übergegangen und Will entpuppt sich immer mehr als Erzähler. Mit Hilfe vieler Fabelwesen nehmen sie den Kampf gegen die Feen auf, die die Menschen aufgrund des als Verrat empfundenen Weggangs ihrer Schwester als ihre Feinde betrachten und daher in der Menschenwelt ein neues Fabula errichten wollen, in der es zwar noch Tiere, aber keine Menschen mehr geben wird. Dieser Plan stammt von der Nachtfee Nok, die wegen ihrer Boshaftigkeit von den anderen Feen verbannt worden ist, deren Macht aber in ihrem Zauberstab weiterlebt. Nok gewinnt immer mehr an Einfluss und sie vermag es dadurch auch, die anderen Feen zu manipulieren. Es ist also letztendlich ein Kampf gegen Nok, die sich geschlagen mit den Nachtwesen in das alte Fabula zurückzieht und den Zugang zu diesem verschließt. Um aber den anderen Fabelwesen ein neues Reich zu schenken und den Untergang der Menschenwelt zu verhindern, ergänzt Will das fehlende Kapitel im Buch seines Vaters. Mit der Erzählung von einem neuen Fabula, welches klein wie ein Samenkorn ist und in das dennoch alle Wesen passen und welches von einer Fee, die in beiden Welten zu Hause ist, bewacht wird, werden alle Fabelwesen durchsichtig und beide Welten sind gerettet.


Eine Leseprobe kann hier eingesehen werden.

„Unsere Welten sind miteinander verbunden. Keine kann ohne die andere existieren. Denn aus unserer Welt nehmen die Menschen die Ideen für ihre Geschichten, die sie zum Leben brauchen wie Wasser und Brot. Und von uns müssen Menschen hören und lesen, damit wir leben können. Mehr noch. Die Geschichten, die sie sich über uns erzählen und die sie Märchen nennen, lassen das Herz dieser Welt schlagen.“ (S. 156)

Dass es Geschichten sind, die die Menschen ebenso wie Essen und Trinken zum Leben benötigen, ist dabei nicht nur eine originelle (und in Zeiten von Corona und dem Krieg in der Ukraine aktuelle) Idee, sondern auch eine, die auf eine feinsinnige Art und Weise den Wert des (geschriebenen) Wortes in Form von erfundenen Geschichten vermittelt; der Titel des Buches ist hierfür bereits ein erstes Indiz. Die Kritik, die an der Lebenswirklichkeit vieler Kinder und Erwachsener geübt wird, nämlich dass gar keine Zeit mehr vorhanden zu sein scheint, um sich Geschichten zu widmen (und dadurch die Welt von Fabula bedroht ist), wird dabei eher durch den Plot erzählt, als ausdrücklich formuliert. Nur auf Seite 156/157 wird knapp explizit Kritik geübt, wenn es heißt: „Alles, was für sie zählt, sind Dinge, die sie in die Hände nehmen können. Blinkender, lärmender Tand, der ihnen die Zeit stiehlt. Ihnen die Stunden mit Unwichtigkeiten füllt. Verschlagene Dinge, die sie dümmer machen“. Fabula schafft es somit auf eine überzeugende Art und Weise lehrhaft, aber nicht belehrend zu sein. Das ist insbesondere für kindliche Leserinnen und Leser sehr angenehm, zumal ihnen diese Sichtweise in Form einer fantastischen Geschichte unterbreitet wird und nicht problemorientiert-realistisch.

Besonders an dem Buch ist zudem, dass die Sekundärwelt von Fabula nicht nur eine fantastische Welt darstellt, sondern aus dreizehn Welten besteht, sodass man als Leser oder Leserin in ein komplexes fantastisches Universum eintaucht und auf alle möglichen Fabelwesen stößt und somit an bereits Bekanntes anknüpfen kann (Zwerge, Riesen, Drachen, Feen, Einhörner usw.) oder auch Neues kennenlernt (Furien, Stilze, Alben usw.); das Erkennen von Bezügen zu anderen Texten der fantastischen Literatur wie z.B. Der Herr der Ringe oder Die unendliche Geschichte kann dabei das Lesevergnügen unterstützen, stellt aber keine Voraussetzung für das Verstehen des Buches oder gar ein Lesehindernis dar.

Auch in Hinblick auf die Figurengestaltung kann Fabula überzeugen. Das Zwillingspaar Will und Charlotte bietet vielfältige Identifikationsangebote, da sowohl Will als auch Charlotte über Stärken und Schwächen verfügen und zudem eine nachvollziehbare Entwicklung durchleben. Dass Wills Phantasie und Fabuliergabe, welche sich in der Primärwelt in der Regel im Erfinden von Notlügen zeigen, am Ende etwas Positives, gar Lebensrettendes sind, wird sicherlich vielen Lesern und Leserinnen gefallen. Aber nicht nur die Protagonisten aus der Menschenwelt sind daran beteiligt, dass sowohl die Primär- als auch die Sekundärwelt bestehen bleiben, sondern natürlich auch Bewohner von Fabula, sodass man als Leser oder Leserin am Ende auch die Möglichkeit hat, charakterliche Übereinstimmungen mit Hoin (= Zwerg), Orion (= Jäger) oder Thel (= Sirenenelfe) festzustellen. Und auch diese Figuren zeigen sich nicht als unfehlbare Gestalten, sondern als Mischcharaktere, wobei es im Buch insgesamt nicht um eine Schwarz-Weiß-Zeichnung geht und somit auch die Nacht und die ihr zugehörigen Wesen nicht nur ihre Berechtigung haben, sondern sogar notwendig für ein ausgewogenes Verhältnis sind. „Nok hasste die Menschen, eigentlich hasste sie alles. Sie war die Nacht. Und diese Welt kann nicht ohne sie existieren. Der Tag braucht die Nacht, sonst würde er nie enden, und das wäre unerträglich. Und das Licht braucht die Dunkelheit, damit es sie am Morgen vertreiben kann und mit der Nacht wieder von ihr vertrieben wird.“ (S. 258) Im Anhang / nach dem Ende der Geschichte gibt es eine spannende, baumdiagrammartige Darstellung, mit der die Leserinnen und Leser über Entscheidungsfragen ermitteln können, welchem Charakter aus Fabula sie gleichen bzw. ähneln. Das ist eine ausgesprochen originelle Idee und es wird auch durch die Art der Fragen noch einmal deutlich, dass es nicht darum geht, in allen Bereichen ideal zu sein, um ein Abenteuer bestehen und sich für das Gute einsetzen zu können.

Das Buch stellt mit den zahlreichen Abenteuern und Bewährungsproben, die das Zwillingspaar zu bewältigen hat und die sich in einer raschen Ereignisfolge zeigen, ein sehr spannendes und mitunter auch recht gruseliges Leseerlebnis dar. So müssen Will und seine Schwester zum Beispiel gegen eine Furie kämpfen, sich mehrfach gegen Angriffe von weiteren Schattenwesen wehren und ihre Mutter aus dem Schlund, dem Gefängnis der Zwerge, befreien. Der Actionreichtum und die Dominanz des äußeren Geschehens entsprechen dabei in besonderer Weise den Lektürepräferenzen von Jungen. Durch das Genre der fantastischen Kinderliteratur werden aber beide Geschlechter angesprochen und mit Will und Charlotte gibt es sowohl für Jungen als auch für Mädchen ein Identifikationsangebot. Dass die Geschwister gleichermaßen als Hauptfiguren fungieren, wird durch die Art und Weise der Erzählergestaltung unterstützt, da das personale Erzählen (unregelmäßig; der Schwerpunkt liegt bei Will) zwischen Will und Charlotte wechselt. Dennoch ist es Will, der eine besondere Rolle innerhalb der Geschichte spielt, ist er es doch, der den Weltenbaum als erstes entdeckt und die Welt von Fabula mit seinen Worten rettet und dies, obwohl er immer wieder daran zweifelt, dass auch er – im Vergleich zu seiner Schwester – über besondere Fähigkeiten verfügt.

Jungen und Mädchen, die auf der Prozessebene des Lesens keine oder nur geringfügige Probleme haben, werden mit Sicherheit mit viel Freude in diese besondere fantastische Welt eintauchen und im besten Fall von ihr erzählen. Unterstützt werden sie bei der Bewältigung der fast 350 Seiten durch eine durchweg spannende Handlung, sympathische und differenziert gezeichnete Figuren und eine sehr ansprechende sprachliche Gestaltung, die durch treffende Vergleiche und originelle Bezeichnungen für Eigentümlichkeiten der fantastischen Welt (z.B. „Plappergeien“ oder „Tüddeltee“) das Erzählte sehr anschaulich werden lässt.

Angesprochen werden v.a. Jungen (und Mädchen), die mit dem Lesenkönnen (Prozessebene) keine (größeren) Probleme haben, die aber nicht so gerne lesen (Subjektebene), weil ihnen unter Umständen geeignet Lesestoffe fehlen. Durch die Spannung, die sofort einsetzt und die über das gesamte Buch gehalten wird, sowie die altersgerechte sprachliche Gestaltung sollte die vergleichsweise hohe Seitenzahl kein Lesehindernis für Leseratten darstellen und ihr Selbstkonzept als Leser*in durch die Bewältigung solch eines dicken Buches weiter gestärkt werden. Da in Schulklassen die Leser*innenschaft aber in der Regel sehr heterogen ist, ist das Buch v.a. für die private Lektüre, aber auch für die Klassenbibliothek (Lesestoff für freie Lesezeiten / Vielleseverfahren) zu empfehlen. 

In Hinblick auf eine unterrichtliche Integration bietet sich Fabula im Rahmen von Unterrichtseinheiten zum Thema „Märchen“ an. Wenn es darum geht, die Entstehung von Märchen und vor allem ihre Funktion zu thematisieren, können Auszüge aus dem Buch mögliche Einstiege in die Behandlung bieten (z.B. S. 156, S. 339). Und im besten Fall wird es in Folge Schülerinnen und Schüler geben, die Lust haben, das gesamte Buch zu lesen und / oder selbst Märchen (Geschichten) zu erfinden. 

Für Kinder, die anhand der Auszüge und Informationen zum Buch Gefallen an diesem gefunden haben, aber noch nicht so gute Leser*innen sind, besteht durch das zeitgleich erschienene Hörbuch aber auch die Möglichkeit, die großartige Geschichte von Fabula zu erleben.