Buchcover Veronique Petit: Sechs Leben

Wie alle Jugendliche macht Gabriel zu seinem fünfzehnten Geburtstag einen Bluttest, um zu erfahren,...

Rezension von Eva Maus

Gabriel erfährt an seinem fünfzehnten Geburtstag, dass er etwas Besonderes ist: Er gehört zu den wenigen Menschen mit Sechs Leben. Doch was fängt man mit fünf Bonusleben an? Es braucht nur wenig Text, um Gabriels Entwicklung vom verschwenderischen Umgang mit seinem Glück über viele moralische Überlegungen und schwierige Situationen bis hin zu einer reflektierten Einstellung nachzuzeichnen – viel Stoff zum Nachdenken ganz ohne erhobenen Zeigefinger.

BuchtitelSechs Leben
AutorVeronique Petit
GenreFantasy
Lesealter12+
Umfang223 Seiten
Verlagmixtvision
ISBN9783958541627
Preis15,00 €

Wie alle Jugendliche macht Gabriel zu seinem fünfzehnten Geburtstag einen Bluttest, um zu erfahren, ob er ein Multileben ist. Sein Ergebnis: Er hat sechs Leben - so wie weniger als 1% der Bevölkerung. Gabriel kann sein Glück nicht fassen und sieht die Chance gekommen, sich seine gefährlichen Träume zu erfüllen. Prompt stiehlt er einen Gleitschirm und springt von einer Felsklippe. Dass er dabei ein Leben verliert, hält er zunächst geheim und denkt sich nicht viel dabei. Schließlich bleiben ihm noch fünf weitere Leben. Bald opfert er ein weiteres Leben, um einen jüngeren Schüler vor einem tödlichen Verkehrsunfall zu retten und damit seinen großen Schwarm Mia zu beeindrucken. Das nächste lässt Gabriel bei einem unnötig riskanten Fallschirmsprung. So zerrinnen Gabriels Bonusleben und mit jedem Tod und jeder Gruppentherapiesitzung, die alle Multileben in der Schule absolvieren müssen, reflektiert er mehr über für ihn zunehmend wichtige Fragen: Wofür sollte man seine Leben einsetzen? Wie wird man ein Held? Er erlebt, wie ungerecht das Leben und vor allem der Tod sein können und erfährt, wie Multileben in Bürgerkriegsregionen ausgenutzt werden. Ihm stellen sich dabei nicht nur ethische Fragen, er löst sich auch von oberflächlichen Werten und ist am Ende bereit, sein letztes Leben für Klassenkameradinnen und -kameraden in Gefahr zu opfern. 

Eine Leseprobe kann hier eingesehen werden. 

Für Gabriel beginnt mit der Nachricht, dass er sechs Bonusleben besitzt, eine abenteuerliche Zeit, in der er zunächst sorglos Leben dem Spaß opfert oder versucht, Eindruck bei Mia, einer Klassenkameradin, zu schinden. Durch viele Erfahrungen und Gespräche in der Gruppentherapie für Multileben gewinnt er aber an Reife. Sechs Leben trumpft dabei nicht mit erhobenem Zeigefinger auf, sondern lässt Gabriels Gedanken und Taten unkommentiert, regt damit zum Nachdenken an und öffnet vielfältige Möglichkeiten, um über das Buch hinaus mit dem interessanten Gedankenexperiment weiterzuarbeiten: Was wäre, wenn es Multileben gäbe? 

Für ungeübtere Lesende kann der Einstieg in die grundsätzlich realistische Welt, die nur durch die Multileben erweitert wurde, zunächst etwas schwieriger sein. Gerade sie profitieren aber davon, dass das Buch mit relativ wenig Text auskommt und völlig auf ausufernde Beschreibungen verzichtet. Es wird durchgängig sehr auf den Punkt und chronologisch erzählt, die Sprache ist einfach gehalten. Trotz der komplexen Fragestellungen kommt der Text ohne herausfordernde sprachliche oder erzählerische Komplexität aus.

Die Handlung ist nicht unbedingt realistisch: Gabriel passieren viele unwahrscheinliche Ereignisse in kurzer Zeit und er trifft stets Figuren mit genau den Erfahrungen, die er für seine geistige und emotionale Entwicklung gerade braucht. So gleicht die Handlung eher einem Versuchsaufbau denn einer Abenteuergeschichte. Trotzdem bleibt die Handlung von Beginn an spannend und entwickelt sich zum Ende hin sogar zum echten Pageturner.  

Gabriel bleibt dabei ein recht flacher Charakter, der vor allem durch den sich wandelnden Umgang mit den Bonusleben und seinen Werten gekennzeichnet wird. So wertschätzt er zum Ende hin nicht nur jedes einzelne Leben mehr, sondern ist auch weniger auf seine oberflächliche Außenwirkung bedacht. Dadurch und weil die Handlung konsequent und völlig unkommentiert aus seiner Perspektive geschildert wird, bietet er sich für viele Lesende als Identifikationsfigur an. 

Der Titel eignet sich auch für Jungen (und Mädchen), die eher schwer Zugang zu fiktiven Welten finden, da er viele philosophische Gedanken enthält und mit sehr wenig Ausschmückung auskommt. Gleichzeitig ist er auch auf der Handlungsebene spannend und kann Abenteuer-Fans begeistern. 

Insgesamt profitieren geübte wie ungeübte Lesende bei der Lektüre von Sechs Leben davon, dass in wenig Text viele tiefgreifende Fragen gestellt und gekonnt mit spannender Handlung kombiniert werden. 

Durch die überschaubare Textmenge und die relativ einfache Sprache bietet sich Sechs Leben als Lektüre auch für leseungeübtere Jugendliche an. Das funktioniert als Privatlektüre genauso wie in freien Leseformaten in institutionellen Kontexten, aber ganz besonders auch im Unterricht. 

Die vielen aufgeworfenen Fragen, mit denen sich Gabriel auseinandersetzen muss, regen ganz von allein bereits zum Nachdenken an. Im Literaturunterricht – vielleicht sogar fächerübergreifend mit dem Unterricht in Ethik, Philosophie bzw. Werte & Normen – können diese Gedankenexperimente und moralischen Fragen vertieft werden: Was würdest du mit Bonusleben anstellen? Wer verhält sich im Text richtig? Wem würde man Bonusleben in der Realität besonders gönnen/wünschen? Was ist ein Held/eine Heldin? Wie wäre Gabriels Geschichte verlaufen, wenn er von Beginn an gewusst und gedacht hätte, was er am Ende der Handlung weiß und denkt? Würde man anders spielen, wenn Avatare im Computerspiel nur ein einziges Leben hätten? Wie würden sich diese Spiele damit verändern? Die Fragen lassen sich zum Beispiel sowohl kreativ mit Schülerinnen und Schülern umsetzen als auch (teilweise) mit Ansätzen berühmter Philosophen abgleichen. 

Da die Idee der Multileben auch als Anspielung auf Computerspiele mit Avataren gesehen werden kann, die über mehrere Leben verfügen, sind auch hier Ansätze möglich, die Schülerinnen und Schüler in ihrer Lebensrealität abzuholen. Weil es um eher abstrakte Ideen und Gedanken geht, lässt sich im Unterricht zudem auf das Einbringen ‚eigener Betroffenheit‘ verzichten, so dass der Unterricht mit Sechs Leben auch leicht gendersensibel planbar ist.