Rezension von Christina Gürth
Kochen für Kids, Kinder-Yoga und Klavierstunden: „Wir sind viel zu brav“, darüber sind sich Matti und Otto aus Berlin-Mitte fast einig. Die Suche nach dem ‚wilden‘ Leben führt die beiden zehnjährigen Freunde ins Berliner Stadtviertel Neukölln zu YouTube-Star „Bruda Berlin“. Die in seinen Videos gezeigten ‚Gangster-Typen‘ sollen den beiden Jungs dabei helfen, den Kioskbesitzer Hotte zu retten, der von skrupellosen Immobilienhaien bedroht wird. Silke Lambecks humorvoller und spannender Großstadtroman sorgt für besonders kurzweilige Unterhaltung, bietet aber – durch das gekonnte Spiel mit Klischees – auch Anknüpfungspunkte für gesellschaftskritische Reflexionen.
Buchtitel | Mein Freund Otto, das wilde Leben und ich |
Autor | Silke Lambeck (mit Illustrationen von Barbara Jung) |
Genre | Abenteuer Humor & Komik Gegenwart & Zeitgeschichte |
Lesealter | 8+ |
Umfang | 180 |
Edition | 1. Auflage |
Verlag | Gerstenberg |
ISBN | 978-3-8369-5625-3 |
Preis | 12,95 |
Erscheinungsjahr | 2018 |
Die beiden Fünftklässler Matti und Otto sind beste Freunde. Als sie im Musikunterricht einen Gangsta-Rap auf YouTube ansehen und als Hausaufgabe einen eigenen Rap schreiben sollen, wird ihnen klar, dass ihr bisheriges Leben und auch ihr behütetes Wohnumfeld in Berlin Mitte so gar nicht gangstermäßig sind. Sie beschließen, künftig weniger brav zu sein. Matti schwänzt fortan die Klavierstunden und Otto seinen Kinder-Yogakurs. Die freie Zeit nutzen sie, um einen Rap zu verfassen, mit dem sie den stets übellaunigen Kioskbetreiber Hotte Zimmermann ärgern wollen. Der alte Mann gilt als ‚Kinderfeind‘, aber sein Kiosk bietet den Kindern des Viertels eine der letzten Anlaufstellen, um gewöhnliche Süßigkeiten und Eis zu kaufen, denn die meisten ‚normalen‘ Geschäfte mussten bereits den zahlreichen Hipster-Läden oder veganen Cafés weichen. Als auch Hotte von skrupellosen Immobilienhaien aus seinem Laden vertrieben werden soll, beschließen die Jungs, ihm zu helfen. Sie erinnern sich an die finsteren Gangsta-Gestalten aus dem YouTube-Video und machen sich auf den Weg nach Berlin Neukölln, in der Hoffnung, dass Rapper Bruda Berlin und seine ‚gefährlichen‘ Verwandten dabei helfen, Hotte vor einem durch die Immobilienfirma angeheuerten Schlägertrupp zu beschützen. Von den Aktionen ihrer Söhne erfahren deren vielbeschäftigte Eltern erst, als ein gemeinsamer Videodreh mit Bruda Berlin zur Rettung von Hottes Laden für alle Beteiligten auf dem Polizeirevier endet.
Das Rap-Video verbreitet sich rasch im Internet und so werden Matti, Otto und Hotte richtige YouTube-Berühmtheiten − und die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit führt letzlich dazu, dass Hotte seinen Laden behalten kann.
Eine Leseprobe finden Sie hier.
Sind wir etwa zu brav? Das fragen sich die Freunde Matti und Otto. Bei ihnen wird die Sehnsucht nach dem ‚wilden‘ Leben geweckt, als sie für ein schulisches Rap-Projekt Gangsta-Musikvideos des YouTube-Stars „Bruda Berlin“ ansehen. Schnell ist ihnen klar, dass ihr eigenes Leben wenig abenteuerlich verläuft. Denn die beiden Jungs wachsen in eher behüteten Verhältnissen im Stadtteil Berlin Mitte auf. Der Alltag und die Freizeitaktivitäten der beiden 10-Jährigen sind insbesondere durch deren Mütter stark reglementiert und bieten den beiden Jungs neben Klavierstunden, Kinder-Yoga, Fecht- oder Kochkursen wenig Freiraum für eigenständige Erfahrungen im großstädtischen Raum.
Der Roman schildert die Sehnsucht und Suche der beiden Jungen nach mehr Abenteuer, Grenzüberschreitungen und kleinen Fluchten aus ihrem behüteten Alltagsleben. Dabei entfernen sich die Jungs zunehmend aus dem geschützen und durch die Mütter dominierten familiären Raum und wenden sich eher männlichen Figuren zu, die nicht zum Familienkreis gehören. Die Kinder erweitern ihren Aktionsradius und erobern sich so neue Handlungsspielräume. Sie schließen neue Freundschaften und lösen mit Verstand, Kreativität oder auch nur mit einem lauten Lachen auftauchende Probleme.
Die beiden sympathischen Hauptfiguren, der Ich-Erzähler Matti und sein manchmal etwas schräger Freund Otto, bieten dabei viel Identifikationspotenzial für junge Leser.
Der individuelle familiäre Hintergrund der beiden Jungen bildet jeweils den Ausgangspunkt für weitere Nebenhandlungen der Geschichte: Bei Matti ist es die Partnersuche seiner alleinerziehenden Mutter und bei Otto ist es insbesondere die Mama-Blog-Thematik, die sich durch besonderen Humor auszeichnet und den Leser*innen einen hohen Unterhaltungfaktor verspricht. Sehr zum Leidwesen ihrer vier Kinder ist Ottos Mutter nämlich ständig damit beschäftigt, ihren mitunter recht chaotischen Familienalltag auf dem von ihr betriebenen Mama-Mitte-Blog perfekt in Szene zu setzen.
Dass Otto und Matti sich bei ihrem Plan, ihr Leben künftig aufregender zu gestalten und einmal etwas wirklich Verbotenes zu tun, aber immer noch im Rahmen gängiger Moralvorstellungen bewegen, wird deutlich, als sie sich dafür entscheiden, nur jemand zu ärgern, der es auch ‚tatsächlich verdient‘ hat. Schnell fällt die Wahl auf den als Kinderfeind verschrieenen Kioskbetreiber Hotte Zimmermann, dessen abgehalfterter Laden so etwas wie ein Paralleluniversum inmitten der ihn umgebenden Hipster-Welt darstellt. Zwischen dem griesgrämigen alten Mann und den Jungen entwickelt sich jedoch unverhofft und ganz langsam eine Art Freundschaft, insbesondere weil die Jungs sich für ihn einsetzen, als skrupellose Immobilienhaie Hotte aus seinem Ladenlokal vertreiben wollen.
Die Rettung von Hottes Laden ist Anlass für die Kinder, sich auf den Weg in eine für sie fremde Welt zu machen. Mit der U-Bahn fahren sie in den Stadtteil Berlin Neukölln, wo sie das wirklich wilde Leben vermuten. Sie haben den Plan, ein paar der Gangster anzuheuern, die sie in Bruda Berlins YouTube-Video gesehen haben. Diese sollen helfen, Hotte vor den Schlägertypen zu beschützen, die ihm die Immobilienfirma auf den Hals gehetzt hat.
So wie der Mama-Blog von Ottos Mutter ein verzerrtes und geschöntes Bild des eher chaotischen Familienlebens inszeniert, so erkennen die Jungs nun, dass auch das YouTube-Video von Bruda Berlin nur eine vermeintliche Gangster-Welt abbildet.
Die hiermit verknüpfte Frage nach Selbstinszenierung (ob Hipster oder Gangster) und gesellschaftlichen Vorurteilen gegenüber anderen wird im Roman auf unterschiedlichen Ebenen – und oft mit einer ordentlichen Portion Humor – behandelt. Auch in seiner Auseinandersetzung mit Social Media und dem Thema Gentrifizierung knüpft der Roman an aktuelle gesellschaftliche Problemfelder an. Diese Themen werden aber nie zum Selbstzweck, sondern sie sind stets in den Handlungsverlauf integriert bzw. bilden den Ausgangspunkt für diese aufregende und spannend erzählte Geschichte.
Der Roman bietet insgesamt mehr Spannung, Aktualität und Witz, als es Cover und Klappentext auf den ersten Blick erahnen lassen. Die 25 kurzen Kapitel werden jeweils durch zum Text passende und häufig lustige Illustrationen von Barbara Jung ergänzt, die das Textverstehen unterstützen.
Der Text hält aber auch einige sprachliche und inhaltliche Herausforderungen bereit, indem beispielsweise englische Sätze nicht übersetzt werden und das individuelle Vorwissen in Bezug auf Medien (z.B. YouTube, Blog, Hacker, Klicks, Screenshot) ausschlaggebend dafür ist, ob die Leser*innen alle Textteile gut verstehen können.
Daher ist das Buch insgesamt für eher geübte und ältere Leser der Altersgruppe (eher ab 9 Jahren) zu empfehlen.
Auch die vor allem für erwachsene Mitleser sehr amüsante Milieuschilderung entgeht ggf. den jüngeren Lesern bzw. den Lesern, denen die großstädtische Lebenswelt unvertraut ist. Für das Verständnis der Geschichte ist dies jedoch nicht weiter problematisch.
Durch die gelungene Kombination von humorvollen und spannenden Elementen bietet Silke Lambecks Großstadtroman nicht nur jungen Leser*innen, sondern auch potenziellen erwachsenen Mit- oder Vorlesern abwechslungsreiche und kurzweilige Unterhaltung. Das gekonnte und mitunter herausfordernde Spiel mit Klischees eröffnet zudem zahlreiche Anknüpfungspunkte für gesellschaftskritische Fragestellungen.
Das Buch ist für die private Lektüre und für offene Leseförderformate (z.B. als Bestandteil von Bücherkisten im Rahmen von Vielleseverfahren) geeignet. Da der Text einige inhatliche und sprachliche Herausforderungen bereithält, eignet er sich für eher geübte und ältere Leser der Altersklasse (ab ca. 9 Jahren).
Der besondere Humor und die Spannung innerhalb des Textes legen insbesondere auch den Einsatz im Bereich der Leseanimation nahe, z.B. beim Vorlesen (auch in Auszügen) innerhalb des Familienkreises oder in größeren Gruppen (z.B. im Klassenverband).
Silke Lambecks Roman bietet zahlreiche thematische Anknüpfungspunkte (Mediennutzung, städtischer Lebensraum, Gentrifizierung, Kriminalität, Vorurteile, (Gangsta-)Rap etc.), die an verschiedene Unterrichtsfächer der 5.-6. Klasse (z.B. Deutsch, Erdkunde, Politik, Musik) anschlussfähig sind, so dass auch ein Einsatz im fachübergreifenden Unterricht denkbar ist.