Buchcover Dirk Reinhardt: Über die Berge und über das Meer

Zwei Jugendliche müssen aus Afghanistan fliehen. Tarek lebt als Hirtenjunge im Nomadenstamm der...

Rezension von Ina Brendel-Kepser

Ein Junge und ein Mädchen flüchten aus Afghanistan. Die realistische Geschichte wird aus zwei Perspektiven erzählt und der Leser wird mitgenommen auf den langen, beschwerlichen und gefährdenden Weg, auf den die beiden jungen Menschen sich begeben müssen. Eine atmosphärische Lektüre voller Spannung über aktuelles Zeitgeschehen.

BuchtitelÜber die Berge und über das Meer
AutorDirk Reinhardt
GenreGegenwart & Zeitgeschichte
Lesealter14+
Umfang318
Edition1. Auflage
VerlagGerstenberg
ISBN978-3-8369-5676-5
Preis14,95

Zwei Jugendliche müssen aus Afghanistan fliehen. Tarek lebt als Hirtenjunge im Nomadenstamm der Kuchi und die Taliban, in deren Visier er gerät, wollen ihn zwingen, als Spurenleser für ihn tätig zu werden. Soraya ist als siebtes Mädchen einer auf dem Land lebenden Familie geboren worden und hat unter dem Namen Samir bis zum frühen Jugendalter ein Leben als Junge führen dürfen. Doch diese Freiheit wird jäh beschnitten, als die Taliban gewaltsam darauf drängen, dass sie zu einem im Haus zurückgezogenen Leben als Frau findet. Beide Familien beschließen aufgrund der akuten Bedrohung, ihre Kinder auf die gefährliche Flucht Richtung Europa zu schicken. Soraya, die Tarek auf seiner Wanderung ins Sommerlager kennen gelernt hat, wartet in diesem Jahr vergeblich auf ihn, aber schon bald ist auch sie nicht mehr in ihrem Heimatdorf in den Bergen, sondern unterwegs auf einer lebensbedrohlichen Fluchtroute.  Auf der Flucht treffen beide Jugendliche auf Menschen, die ihre Situation ausnutzen, aber auch auf Helfer und Freunde. Eine Begegnung der organisierten Fluchttrecks führt Tarek und Soraya unverhofft zueinander, doch jeder muss seine Flucht getrennt vom anderen fortsetzen. Erst in Deutschland kommt es zu dem erhofften Wiedersehen.

Hier finden Sie eine Leseprobe.

Die Geschichte, die der zeitgeschichtliche Jugendroman erzählt, berührt ein tagesaktuelles Thema: die weltweiten Fluchtbewegungen von Menschen, die aufgrund einer Bedrohung an Leib und Leben ihre Heimat verlassen müssen. Die Situation in Afghanistan – ein Land seit 40 Jahren im Spielball unterschiedlicher Mächte – wird differenziert geschildert und durch paratextuelle Elemente (Nachwort, Glossar, Landkarten) inhaltlich vertieft. Die politischen Zusammenhänge werden dabei nicht als Vorwissen des Lesers vorausgesetzt, sondern als Teil der Handlung eingespielt. 

So entsteht eine gut recherchierte Geschichte aus der Perspektive zweier Jugendlicher über ihren gefährlichen Weg von Afghanistan bis nach Deutschland, die spannend zu lesen ist und betroffen macht.  

Der Einstieg erfolgt über Soyayas Sicht, die aber zu diesem Zeitpunkt noch als Junge (Samir) lebt. Ein Drachenkampf zwischen den Jungen im Dorf setzt den Beginn eines Spannungsbogens, der ein großes ‚Abenteuer‘ ankündigt. Die Aufrechterhaltung der Spannung erfolgt durch die Schilderung der Flucht, deren Ausgang für beide Protagonisten ungewiss ist. Von der aufgezwungenen Entscheidung, die Flucht anzutreten zu den Verhandlungen mit den Schleusern über die Gebirgsüberquerung, die Überfahrt auf dem Meer sind die Jugendlichen zahlreichen Übergriffen ausgesetzt. Immer wieder begegnen ihnen dabei böswillige Widersacher, aber auch unerwartete Helfer. Tarek, der aus einem Nomadenvolk stammt, ist ein zäher Junge, körperlich geschickt und mit dem harten Leben in der Natur vertraut. Daher wird er zum Gehilfen vieler anderer Figuren, die größere Schwierigkeiten haben, die Flucht zu überstehen. Auf diese Weise stellt er eine positive Identifikationsfigur dar – er ist einer, der nicht aufgibt. Keineswegs stilisiert ihn die Geschichte aber zu einem stereotypen männlichen Helden, denn er kennt sehr wohl auch die Tradition des Geschichtenerzählens und wird selbst zum Erzähler der Geschichte des Zaubervogels Simurgh (dessen Feder auf dem Cover zentralen Raum einnimmt). Die sich anbahnende Liebesgeschichte  zwischen Soraya und Tarek wird über den großen Handlungsbogen der beiden Fluchtgeschichten gut integriert, gewinnt also kein Übergewicht, wenngleich die Geschichte letztlich mit einem etwas romantischen Schluss aufwartet. Thematisch interessant ist zudem, dass Reinhardt mit der doppelten Identität von Soyaya/ Samir das Phänomen der Geschlechtermaskerade bacha posh aufgreift und über diese Inszenierung implizit die Frage nach Geschlechterverhältnissen, Handlungsmacht und Empowerment stellt. 

Die Glaubwürdigkeit der Figurenanlage und der Handlungsdramaturgie der Geschichte, die in überschaubaren Kapiteln chronologisch, aber aus wechselnden Perspektiven erzählt wird (womit sich der textseitige Verstehensanspruch erhöht), setzt zudem auf eine gut verständliche Sprache und anschauliche Figurenrede. Dass diese Sprache gleichsam poetischen Charakter besitzt und Atmosphäre transportieren und auf diese Weise die Wahrnehmung des Fremden ermöglichen kann, schließt die Eignung des Romans für die Leseförderung von Jungen keineswegs aus. 

Ein Nachwort des Autors mit Hintergrundinformationen über die politische Situation in Afghanistan und über seine Recherchen in Form von Gesprächen mit Flüchtlingen in Deutschland, ein Glossar zu den einschlägigen Begriffen sowie Landkarten mit den Fluchtrouten der beiden Protagonisten auf dem Vorsatzpapier des Buches stellen wichtige paratextuelle Elemente dar, die das Verstehen der Geschichte anreichern. Ein wichtiger und spannender Roman zur aktuellsten Zeitgeschichte.

Das Buch eignet sich für die Lektüre in der Freizeit, für offene Lesefördersettings sowie als Klassenlektüre (mit Themen für den fächerübergreifenden Unterricht). 

Folgende Internetseiten bieten weitere Informationen:

Ein Buchtrailer zum Roman wird auf der Seite des Gerstenberg Verlags angeboten. Dieser ist als Autorentrailer konzipiert, in dem Reinhardt über sein Buch spricht.

Auf der Community-Plattform LovelyBooks findet sich eine Leserunde (mit Beteiligung des Autors). Leserunden sind virtuelle Schreibgespräche über Literatur, an der sich angemeldete LeserInnen beteiligen können. Das „Schreibgespräch“ über den Roman ist in fünf Leseabschnitte gegliedert, zudem beurteilen die LeserInnen die Cover-Gestaltung und verfassen Rezensionen. Hier kommen Sie zur Seite.

Materialien für ein Unterrichtsmodell zum Roman liefert der Gerstenberg Verlag.