Buchcover Michael Grant: Gone – Verloren

Von einer Sekunde auf die andere verschwinden in Perdido Beach alle Menschen, die über fünfzehn...

Rezension von Verena Beltz

Von einer Sekunde auf die andere verschwinden in Perdido Beach alle Menschen, die über fünfzehn Jahre alt sind. Der vierzehnjährige Sam und seine Freunde finden heraus, dass die Stadt von einer undurchdringbaren Barriere umschlossen ist, die sie vollständig von der Außenwelt isoliert. Die Jugendlichen sind gezwungen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen: Sie organisieren sich, um ihr Überleben ohne Erwachsene zu sichern. Doch schon bald überwiegen Machtgier und Brutalität in der FAYZ – der sogenannten Fallout Alley Youth Zone, in der es keine verbindlichen Regeln mehr gibt...

BuchtitelGone – Verloren
AutorMichael Grant
GenreKrimi & Thrill
Umfang499 Seiten
EditionJubiläumsausgabe 2013
VerlagRavensburger
ISBN978-3-473-54420-2
Preis6,00 €

Von einer Sekunde auf die andere verschwinden in Perdido Beach alle Menschen, die über fünfzehn Jahre alt sind. Der vierzehnjährige Sam und seine Freunde finden heraus, dass die Stadt von einer undurchdringbaren Barriere umschlossen ist, die sie vollständig von der Außenwelt isoliert. Die Jugendlichen sind gezwungen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen: Sie organisieren sich, um ihr Überleben ohne Erwachsene zu sichern. Doch schon bald überwiegen Machtgier und Brutalität in der FAYZ – der sogenannten Fallout Alley Youth Zone, in der es keine verbindlichen Regeln mehr gibt. Als die Schüler der Coates Academy, einer Privatschule für reiche Problemkinder, die Kontrolle übernehmen und der manipulative Caine sich geschickt zum Anführer macht, eskaliert die Situation. Die neue selbsternannte Regierung trägt bald diktatorische Züge und Sam, der von den anderen Kindern als mutiger Held verehrt wird, ist gezwungen, sich auf Machtkämpfe mit Caine einzulassen. Dabei hütet auch Sam ein Geheimnis: Wie viele andere Jugendliche hat er eine besondere Kraft entwickelt, von der niemand wissen darf und die zunehmend gefährlicher wird.

Es war früher Abend und das Garagentor stand weit offen. Jemand – nach den langen rötlichen Haaren zu urteilen ein Mädchen – lag zusammengekauert auf der Schwelle. Von der Straße kamen drei dunkle Gestalten die Auffahrt heraufmarschiert.
„Hilf mir!“, flehte das Mädchen leise.
Sam kniete sich neben sie, dann fuhr er erschrocken zurück. „Bette?“
Bettes linke Gesichtshälfte war voller Blut. Es drang aus einer Platzwunde über ihrer Schläfe. Sie keuchte und schnappte nach Luft, als hätte sie einen Marathonlauf hinter sich und versuchte nun mit letzter Kraft, über die Ziellinie zu gelangen.
„Bette, was ist passiert?“
„Sie sind hinter mir her“, weinte Bette und klammerte sich an Sams Arm.
Die drei dunklen Schatten näherten sich dem aus der Garage fallenden Lichtkegel. Einer war eindeutig Orc. Niemand sonst war so groß. Edilio und Quinn, die Sam gefolgt waren, stellten sich in die Garageneinfahrt. Sam löste sich aus Bettes Griff und ging neben Edilio in Stellung.
„Wenn ihr Prügel wollt, könnt ihr sie haben!“, rief Orc.
„Was soll das?“, schrie Sam ihn an. Er erkannte die anderen beiden. Der eine hieß Karl, er war aus seinem Jahrgang, der andere war ein Coates-Schüler namens Chaz. Alle drei waren mit Aluschlägern bewaffnet.
„Geht dich nichts an“, erwiderte Chaz knapp. „Wir erledigen das.“
„Was heißt erledigen? Orc, hast du Bette geschlagen?“
„Sie hat gegen die Regeln verstoßen“, erwiderte Orc.
„Du schlägst ein Mädchen?“, fragte Edilio entsetzt.
„Halt’s Maul!“
„Wo ist Howard?“ Sam wollte Zeit schinden, um überlegen zu können, wie sie am besten vorgehen sollten. Einen Kampf gegen Orc hatten sie schon verloren. Orc fasste die Frage aber als Beleidigung auf. „Ich brauch Howard nicht. Mit dir werde ich auch so fertig.“
Orc kam auf Sam zu. Einen halben Meter vor ihm blieb er stehen und legte sich den Schläger auf die Schulter.
„Aus dem Weg, Sam!“, befahl Orc.

Michael Grants Gone – Verloren ist wie geschaffen für jeden Thrillerfreund. Fieberhaft verfolgt der Leser, wie sich Perdido Beach durch das Verschwinden der Erwachsenen zunehmend in einen beklemmenden Ort der Anarchie und Gewalttätigkeit verwandelt. Sam, der männliche Protagonist des Romans, sieht sich gezwungen, Position zu beziehen und den Kampf gegen die von Brutalität geprägte Herrschaft Caines aufzunehmen – dabei ist er eigentlich ein ganz normaler Junge, mit dem sich jeder Leser gut identifizieren kann. Die von Gesetzeslosigkeit dominierte Situation wirft Fragen nach Recht und Unrecht auf und berührt dabei auch gesellschaftliche Themen von zeitloser Aktualität, wie etwa die Problematik des eigenverantwortlichen Handelns in Verbindung mit Zivilcourage. Denn auch wenn Sam bisher eher zurückhaltend war und sich gerne im Hintergrund hielt, kann er die diktatorischen Methoden Caynes und seiner Handlanger nicht tatenlos mitansehen: Er muss einschreiten, um sich und seinen Freunden das Leben zu retten. Gleichzeitig ist das Buch auch von zwischenmenschlichen Spannungen geprägt: Sams Heldenrolle schürt Neid, der durch die Manipulation Caines verstärkt wird: Sein bester Freund Quinn stellt ihre Freundschaft in Frage – eine Erfahrung, die viele Heranwachsende in der Pubertät machen, wenn sie durch Veränderungen neue soziale Rollen einnehmen und die bestätigende Loyalität ihrer Freunde verlieren. Sam muss lernen, für sich und sein Handeln selbst einzustehen und seinen eigenen Weg zu gehen. Dabei hat er für den Leser durchaus moralische Vorbildfunktion.

Der Roman ist für Leseeinsteiger sehr umfangreich, besticht aber durch seine schnelle gedrängte Handlungsabfolge, die den Lesenden sofort in den Bann der Geschichte zieht. Zudem ist der Roman leicht verständlich geschrieben. Dabei ist die chronologisch ablaufende Handlung in überschaubare Teile untergliedert, die die Zeit bis zur Sams fünfzehntem Geburtstag dokumentieren – eine Formgebung, die die Spannung zusätzlich erhöht, neugierig auf das Ende macht und zum Weiterlesen animiert.

Michael Grants Gone – Verloren ist eine Mischung aus William Goldings Herr der Fliegen und Harry Potter. Ähnlich wie in Goldings Robinsonade wird hier ein Szenario der Anarchie unter Jugendlichen entworfen: Gemeinsam mit dem Protagonisten muss der Leser mitansehen, wie sich ein bis dato reibungslos funktionierendes Gesellschaftssystem mit dem Verschwinden der Erwachsenen zu einem Ort der Gewalt verwandelt. Es scheint, als zeige jeder Mensch nun sein wahres Gesicht; brutale Neigungen und rücksichtslose Machtgier können ausgelebt werden. Hierdurch kann der heranwachsende Leser sehr viel über die Abgründe des Menschen lernen und sich gleichzeitig damit auseinandersetzen, welche Werte wirklich wichtig sind und wie der Einzelne sich in Extremsituationen verhalten kann. Das Buch zeigt sehr realistisch, wie die Atmosphäre innerhalb einer sozialen Gemeinschaft kippen kann und berührt auch den Punkt der Manipulierbarkeit der Massen. Dabei scheut der Autor nicht davor, Szenen der Gewalt in aller Detailtreue zu beschreiben.

Grants Figuren tendieren jedoch etwas zur Klischeehaftigkeit: Sams ungewolltes Heldentum in Verbindung mit seinen ungewöhnlich starken Superkräften wirken auf den ersten Blick wie eine Kopie Harry Potters und die übrigen Figuren sind ziemlich flach nach dem Vorbild amerikanischer Highschoolhierarchien gezeichnet. So finden wir beispielsweise gänzlich auf ihre Gewaltbereitschaft reduzierte Footballspieler, die uncoole Außenseiter aufgrund ihrer Andersartigkeit mobben oder Streber, die von allen für langweilig gehalten werden und eigentlich doch ganz in Ordnung sind. Die möglichen Gründe für bösartiges Verhalten werden oft nur holzschnittartig vereinfacht wiedergegeben und lassen die psychologische Einsicht in menschliche Verhaltensweisen vermissen.

Gone – Verloren  besticht dementsprechend nicht durch seine Figuren oder seine Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen. Der Roman ist aber uneingeschränkt spannend und deshalb gerade auch für Leseeinsteiger gut geeignet, wenn sich diese nicht vorab durch den großen Umfang des Buches abgeschreckt fühlen. Das Ziel des Autors war es offensichtlich, die Aufmerksamkeit auf die Handlungsabfolge zu richten und die erklärenden Zwischentöne des Erzählers zu minimieren – ein Konzept, das gerade bei Leseanfängern anschlagen kann, die sich durch ausufernde Erzählerkommentare schnell gelangweilt fühlen. Den Ansprüchen des Genre entspricht der Thriller jedenfalls ohne Frage – das gesamte Buch ist von Action geprägt und bleibt gleichzeitig rätselhaft, weil man unbedingt wissen will, was es mit den Superkräften und dem Verschwinden der Erwachsenen auf sich hat. Diese Mischung macht das Buch gerade auch für Leseeinsteiger attraktiv.

Für Vielleseprogramme geeignet.