Buchcover Beate Dölling: Du bist sowas von raus!

Fünf Mädchen und drei Jungen im Alter von 12 bis 15 Jahren erzählen in acht mitreißenden...

Rezension von Katrin Simunovic

Fünf Mädchen und drei Jungen im Alter von 12 bis 15 Jahren erzählen in acht mitreißenden Geschichten, wie der Alltag von Kindern in armen und sozial randständigen Familien aussieht.

BuchtitelDu bist sowas von raus! – Echte Geschichten aus der Arche
AutorBeate Dölling
GenreGegenwart & Zeitgeschichte
Lesealter12+
Umfang304 Seiten
VerlagGabriel Verlag
ISBN978-3-522-30354-5
Preis14,95 €

Fünf Mädchen und drei Jungen im Alter von 12 bis 15 Jahren erzählen in acht mitreißenden Geschichten, wie der Alltag von Kindern in armen und sozial randständigen Familien aussieht. Die Geschichten schildern lebensnah und eindrucksvoll die unterschiedlichen Aspekte von Armut.

Neben finanziellen Auswirkungen wie Nahrungsmittelknappheit werden auch soziale Auswirkungen wie familiäre Vernachlässigung, körperliche Misshandlung im Elternhaus, Ausgrenzung und Isolation durch Gleichaltrige beschrieben. Die fehlende Unterstützung und Achtung durch das Elternhaus, bedingt durch Sprach- oder Wissensdefizite, fehlende Tagesstrukturen, Missachtung oder Überforderung haben wiederum emotionale Auswirkungen zur Folge. Die jungen Protagonisten der Geschichten leiden unter ihren Lebensverhältnissen und versuchen diese aus Scham und aus Angst vor Konsequenzen mit allen Mitteln zu verheimlichen. In den meisten Fällen sind sie großem Druck ausgesetzt und müssen sehr früh lernen, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen.

Deutlich wird dies beispielsweise in der ersten Geschichte „Nie zu spät“, in der die 12-jährige Lilly ihre vier jüngeren Halbgeschwister versorgt und zum Kindergarten beziehungsweise zur Schule bringt, da ihre Mutter dies nicht als ihre Aufgabe betrachtet. In anderen Geschichten („Schwimmen gehen“) macht der Protagonist Vin den Lesern deutlich, wie schwierig es ist, ein Grundvertrauen in die Welt zu entwickeln, wenn man nicht einmal den Versprechungen des eigenen Vaters trauen kann. Die ständige Abwesenheit, die leeren Versprechungen, das ewige Warten, die Vernachlässigung im Namen der Arbeit und die daraus resultierende Enttäuschung und Ohnmacht  des Jugendlichen werden dem Leser in dieser Geschichte eindringlich vor Augen geführt. Eine ähnliche Ohnmacht durch Überforderung schildert der 12-jährige Protagonist Basha in der Geschichte „Gottes Akt“. Er wächst in ärmlichen Verhältnissen bei seiner afrikanischen Mutter auf und versucht den hohen beruflichen Erwartungen seiner Eltern gerecht zu werden. Diese wollen, dass er ein renommierter Arzt wird, damit seine Mutter und er eines Tages wohlhabend zu seinem ihm unbekannten Vater nach Afrika zurückkehren können. Er zerbricht fast innerlich bei dem Versuch, seine schulischen und sprachlichen Schwierigkeiten (Lese-Rechtschreibschwäche) vor seiner nicht deutschsprachigen Mutter geheim zu halten, um die elterlichen Erwartungen nicht zu enttäuschen. Auch der Protagonist Tim aus der Geschichte „Und dann noch in Grün!“ hütet ein Geheimnis und isoliert sich vollkommen von seinen gleichaltrigen Schulkameraden, damit niemand herausfindet, in welch heruntergekommenen Lebensverhältnissen er mit seiner liebenswürdigen, aber exzentrischen Mutter lebt.

Die Gefühlsschilderung der Protagonisten illustrieren die erschreckenden Folgen einer erdrückenden und gestörten Kindheit: mangelndes Selbstwertgefühl, Selbsthass, Abstumpfung, Aggressionsbereitschaft und im schlimmsten Fall der Weg in die Kriminalität, Spiel- und Drogensucht.

„ […] Klar kommt er essen! Nachher, zu Hause gibt’s nichts mehr. Sie haben alle Reste aufgegessen und ihre sieben Euro heute auch schon ausgegeben. Das ist die Summe, die Mama pro Tag für Essen zur Verfügung steht. Vorhin, auf der Hinfahrt, haben sie sich an der Tanke Eis, Zigaretten und Cola gegönnt. Zu Hause gibt es nie Cola, jedenfalls nicht die richtige. Nur die billige in der anderthalb Liter-Flasche vom Discounter und die auch nur ganz selten. Mama steht nicht auf Zuckerzeug, wie sie sagt. Auch mit wenig Geld könne man sich gesund ernähren. Zu Hause trinken sie Wasser aus der Leitung, >>Hahnenburger<<, denn das Wasser in Berlin ist gut und lecker und kostet sie nichts.
Tim öffnet die Alufolie von seiner Kartoffel. Die Kartoffel ist von außen schwarz verbrannt, innen weich und gelb. Lecker, aber noch viel zu heiß. Sie dampft. Wenn man jetzt noch einen Klecks Butter hätte, wäre sie perfekt. Ihm läuft das Wasser im Mund zusammen. Er nimmt einen Löffel voll von dem Weichen im Inneren, wartet, bis sich der Bissen ausgedampft hat und nimmt ihn in den Mund.

Auf dem Nachhauseweg spielt Tim mit seinem Handy. Schade, er hat kein iPad, worauf man Filme gucken kann, wie die meisten aus seiner Klasse, wenn sie in die Ferien fahren. Wenigstens hat er ein cooles Handy. Hat Oma ihm gekauft, ein HTC One S.
>> Wir wollen nicht so ein bescheuertes Smartphone haben<<, hat Mama Oma am Telefon angeschnauzt.
>> Doch. Ich schon!<<, hatte er dazwischengerufen. Zum Glück bezahlt Oma die monatliche Handyflatrate, sonst wäre er ganz arm dran. Seine Eltern haben dafür keinen Cent übrig. Papa besitzt nur das, was er am Leib trägt, sagt er immer ganz stolz. Mama hat immerhin ein Handy für 12 Euro und eine Prepaidkarte von Aldi, telefoniert aber am liebsten mit Tims Handy, weil er ja eine Flatrate hat, was ihm echt auf die Nerven geht. […]“

Dölling, Beate (2013): Du bist sowas von raus! Echte Geschichten aus der Arche, Gabriel Verlag, Stuttgart/Wien, S. 236-237

Das Buch „Du bist sowas von raus!“ öffnet dem Leser die Augen für „relative“ Armut, die uns alltäglich umgibt und doch verborgen bleibt. Denn auch in unserem verhältnismäßig wohlhabenden Land, in unserer Stadt, in unserer Nachbarschaft leben Menschen in armen Verhältnissen. Dabei denken wir häufig an Männer und Frauen, die wir in der U-Bahn oder auf der Straße bettelnd antreffen, aber denken wir auch an Kinder?  Kinderarmut ist mit etwa 3 Millionen betroffenen Minderjährigen  ein ernstzunehmendes und weitverbreitetes Phänomen, welches jedoch (auch in der Kinder- und Jugendliteratur) nur unzureichend thematisiert wird.

Beate Dölling versucht, sich diesem Thema infühlsam aus dem Blickwinkel von acht betroffenen Kindern zu nähern. Als Protagonisten und Protagonistinnen wählt sie Kinder, die sie in der Institution Arche persönlich kennenlernen durfte. Die Arche ist eine christliche Organisation mit Sitz in Berlin und vielen weiteren deutschen Großstädten, die bedürftige Kinder auffängt und unterstützt.  Der Realitätsbezug lässt die Charaktere authentisch wirken und erleichtert dem Leser identifikatorische Zugänge. Die Kinder, die dem Leser in diesen Geschichten präsentiert werden, sind gewöhnliche Kinder mit gewöhnlichen Vorstellungen und Träumen. Ungewöhnlich erscheint lediglich das Umfeld, in dem sie sich bewegen. Beeinflusst durch ältere, ungünstige Vorbilder, eine altersunangemessene Freizügigkeit oder durch Drogenkonsum kommen viele von ihnen vom rechten Weg ab. Andere tragen in ihren jungen Jahren schon so viel Verantwortung für sich und andere, dass sie davon nahezu erdrückt werden. Trotz der enormen Belastung und der daraus resultierenden frühzeitigen Reifung vermittelt die Autorin, dass die Protagonisten und Protagonistinnen dennoch im Herzen noch unbeschwerte, naive Kinder sind (und sein wollen). Dieses kurze Aufflackern der Kindlichkeit zeigt die innere Zerrissenheit der Charaktere, die auch der Leser intensiv spürt. Durch die lebensnahe Charakterisierung der Figuren kann der Leser die Bedürfnisse nachempfinden und die kindlichen Wünsche nachvollziehen. Besonders intensiv wird die Identifikation von Gleichaltrigen erlebt, da diese ähnliche Weltanschauungen und Überzeugungen aufweisen. Dennoch werden junge Leser auch häufig irritiert von den Wünschen der Protagonisten sein, da diese in ihrer Welt eine Selbstverständlichkeit darstellen. Der Protagonist Tim träumt beispielsweise von einer gewöhnlichen Toilette in der eigenen Wohnung. Vin hingegen wünscht sich einen Tisch, an den man sich gemeinsam hinsetzen kann. Der Tisch steht in seiner Vorstellung nicht nur für einen materiellen Gegenstand, sondern für Gemeinschaft und Familienleben. Ein ähnlicher Wunsch nach Zugehörigkeit und Freundschaft findet sich auch bei Tim und Basha.

Diese Wünsche zeigen deutlich, dass es den Protagonisten und Protagonistinnen neben materieller, auch an emotionaler Zuwendung fehlt. Vin, Basha und Tim wachsen alle mehr oder weniger ohne konstante Vaterfigur und somit ohne direktes männliches Vorbild auf. Alle drei leiden unter dieser Abwesenheit. Vin hat kein besonders enges Verhältnis zu seiner Familie, bestehend aus der Mutter und seiner kleinen Halbschwester Angela, und kämpft meist erfolglos um die Aufmerksamkeit seines Vaters. Er tröstet sich mit seinen älteren Freunden Sergej (16) und Eric (16), mit denen er sich Alkoholexzessen hingibt. Obwohl Basha und Tim eine enge Beziehung zu ihren alleinerziehenden Müttern haben, fehlt es ihnen an gleichaltrigen Freunden. In der Schule werden sie gemobbt und schirmen sich ab, aus Angst, für ihre Lebensverhältnisse noch mehr verurteilt und verstoßen zu werden. In Bashas Fall erschweren der Aspekt der Interkulturalität und die damit verbundenen Identitätsprobleme die Integration zusätzlich. Die Geschichten der drei Protagonisten Vin, Basha und Tim schildern lebhaft drei zentrale Problematiken der heutigen Gesellschaft: Vaterlosigkeit, mangelhafte Unterstützung von Migrantenkindern sowie von Kindern aus armen Verhältnissen. In einigen Geschichten, wie zum Beispiel in der Geschichte „Gottes Akt“, wird unterschwellig Kritik an der Unaufmerksamkeit und dem Verhalten der Repräsentanten der Gesellschaft (in diesem Fall Lehrkräften) geübt.            

Das Buch „Du bist sowas von raus“ überzeugt jedoch nicht nur durch seine Inhalte, sondern ebenso durch seine anschauliche und realistische Erzählweise. Die Autorin Beate Dölling hat für die Erzählungen einen personalen Erzähler gewählt, der es dem Leser ermöglicht, tiefe Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonisten und Protagonistinnen zu gewinnen.  Diese Erzählperspektive begünstigt durch die intensive Schilderung der Innensicht die starke Identifikation des Lesers mit den Charakteren der Geschichten. Die Geschichten werden durch ihren authentischen Sprachstil glaubwürdig und lebendig. Beim Lesen wird deutlich, dass die Autorin die Vorlagen ihrer Charaktere in ihrer Ausdrucksweise und ihrer Art intensiv studiert hat, um dem Leser ein exaktes, gewissermaßen dokumentarisches Bild ihrer Lebenssituation zu liefern. Die Spannung in den Geschichten entsteht durch die achronologische Schilderung. In allen Erzählungen springt der Erzähler zwischen der aktuellen Situation, Flashbacks und Gedankensträngen, wodurch der Leser erst nach und nach puzzleartig über die Geschehnisse und Umstände aufgeklärt wird. Zudem wird die Spannung durch die unvermittelten Einstiege erzeugt. Der Leser fühlt sich zu Beginn der Geschichte verloren, ebenso wie die Charaktere der Geschichten sich verloren fühlen in ihrer Welt.

Auch rein äußerlich wirkt das Buch ansprechend auf junge Leser, da die Aufmachung im Graffiti-Style moderner Street-Art-Kunst entspricht, die auch häufig auf Gebäuden zu finden ist. Zudem gilt Graffiti teils als Zeichen der Rebellion, was dem Inhalt des Buches gerecht wird. Der Hinweis des Covers auf Lukas Podolski, als Arche Botschafter, spricht Jungen ebenfalls an, da viele diesen als Fußballstar anerkennen und bewundern. Abschließend lässt sich sagen, dass das Buch inhaltlich, sprachlich sowie äußerlich ansprechend für junge Leser gestaltet wurde und auch viele Jungen interessieren kann.

Für die Leseförderung ist dieses Buch ebenfalls geeignet, da es sich durch die kurzen Einzelgeschichten (jeweils ca. 30 bis 40 Seiten) auch für nicht lesefreudige Jungen anbietet, die „dicke Wälzer“ meiden. Mittels dieser kurzen Geschichten finden diese Jungen aufgrund der ansprechenden Länge, Thematik und Aufmachung möglicherweise einen Einstieg ins Lesen. Durch die Orientierung an Alltagssprache und den deutlichen Lebensweltbezug ist dieses Buch auch für leseschwächere Jungen zu empfehlen.