Rezension von Eva Maus
Seitdem Gregors Vater verschwunden ist, sind die Sommer für den Elfjährigen öde. Er darf nicht mit den anderen ins Ferienlager fahren, sondern muss auf seine zweijährige Schwester aufpassen, während seine Mutter arbeitet. Doch dann fällt die kleine Boots in einen Lüftungsschacht im Wäschekeller und schlagartig verändert sich alles. Gregor springt seiner Schwester hinterher und findet sich im ewig sonnenlosen Unterland wieder, das von riesigen Insekten und lilaäugigen Menschen bevölkert wird...
Buchtitel | Gregor und die graue Prophezeiung |
Autor | Suzanne Collins (übersetzt von Sylke Hachmeister) |
Genre | Fantasy |
Lesealter | 10+ |
Umfang | 301 Seiten |
Verlag | Oetinger |
ISBN | 978-3-7891-3210-0 |
Preis | 13,90 € |
Seitdem Gregors Vater verschwunden ist, sind die Sommer für den Elfjährigen öde. Er darf nicht mit den anderen ins Ferienlager fahren, sondern muss auf seine zweijährige Schwester aufpassen, während seine Mutter arbeitet. Doch dann fällt die kleine Boots in einen Lüftungsschacht im Wäschekeller und schlagartig verändert sich alles. Gregor springt seiner Schwester hinterher und findet sich im ewig sonnenlosen Unterland wieder, das von riesigen Insekten und lilaäugigen Menschen bevölkert wird. Diese glauben in ihm den Krieger einer alten Prophezeiung gefunden zu haben, der ihnen „das Licht zurück bringen“ und die entscheidende Wende im eskalierenden Krieg zwischen Ratten und Unterländern bewirken kann. Zunächst will Gregor davon nichts hören. Doch dann erfährt er, dass auch sein Vater vor über zwei Jahren ins Unterland fiel und nun von den blutrünstigen Ratten gefangen gehalten wird. Um ihn zu retten, macht Gregor sich auf den Weg in das finstere und gefährliche Höhlensystem. Wie es die Prophezeiung vorhersagt, begleiten ihn bei der Rettungsmission je zwei Unterländer, Kakerlaken, Spinnen, Fledermäuse, eine Ratte und die kleine Boots. Doch die Prophezeiung besagt auch, dass von den zwölf Gefährten nur acht lebend zurückkehren werden…
Die Kakerlaken waren merkwürdig gewesen, die Fledermäuse unheimlich, aber diese Ratten waren der absolute Horror. Wie sie da auf ihren Hinterbeinen saßen, waren sie bestimmt einen Meter achtzig groß, und ihre Beine, Arme oder wie man sie auch nennen wollte, waren unter dem grauen Fell muskelgeschwellt. Das Schlimmste jedoch waren ihre Zähne, fünfzehn Zentimeter lange Schneiderzähne, die ihnen aus dem Maul ragten.
Nein, das Allerschlimmste war, dass sie offenbar wild entschlossen waren, Gregor und Boots zu fressen. Manche Leute dachten, Ratten fräßen keine Menschen, aber Gregor wusste es besser. Selbst die gewöhnlichen Ratten zu Hause konnten einen Menschen angreifen, wenn er hilflos war. Ratten gingen auf Babys los, auf alte Leute, auf die Schwachen und Hilflosen. Da gab es Geschichten von einem Obdachlosen in der Gasse, von einem kleinen Jungen, der zwei Finger verloren hatte – Geschichten, die zu schrecklich waren, um darüber nachzudenken.
Gregor rappelte sich langsam auf, griff nach seiner Fackel, hielt sie jedoch unten. Er drückte Boots mit dem Rücken an die Wand der Grotte.
Fangors Nase bebte. „Der hier hat Fisch zum Abendbrot gegessen. Pilze, Körner und nur ein paar Blätter. Eine köstliche Mischung, das musst du zugeben, Shed.“
„Aber der Junge hat sich mit Kuheintopf und Sahne voll gestopft“, erwiderte Shed. „Außerdem ist sie schön voll mit Milch.“
Jetzt wusste Gregor, weshalb die Unterländer so ein Gewese um das Baden gemacht hatten. Wenn die Ratten das bisschen Gemüse erschnüffeln konnten, das er vor mehreren Stunden gegessen hatte, mussten sie einen phänomenalen Geruchssinn haben.
Die Unterländer waren nicht taktlos gewesen, als sie ihn gedrängt hatten zu baden. Sie wollten ihm das Leben retten!
Hatte er bisher alles drangesetzt, ihnen zu entwischen, wünschte er jetzt sehnlichst, sie würden ihn finden. Er musste sich die Ratten vom Leib halten und Zeit gewinnen. Er erschrak über den Ausdruck. Vikus hatte gesagt, mit Töten würden die Kakerlaken keine Zeit gewinnen. Meinten die Unterländer mit „Zeit“ ganz einfach mehr Leben?
Er klopfte sich die Kleider ab und versuchte den lässigen Plauderton der Ratten aufzunehmen. „Hab ich bei der Sache auch ein Wörtchen mitzureden?“ fragte er.
Zu seiner Überraschung fingen Fangor und Shed an zu lachen. „Er kann sprechen!“ sagte Shed. „Welch eine Freude! Normalerweise bekommen wir nur Gekreisch und Gewimmer zu hören!“
Zunächst lernt der Leser den jungen Helden als einen verzweifelten Elfjährigen kennen, der unter dem Verschwinden seines Vaters und dessen Folgen leidet. Verbissen verbietet er sich jeden Gedanken an eine glückliche Zukunft. Er verrichtet resigniert die ihm aufgetragenen Hausarbeiten und passt auf seine Schwester auf. Als sich die beiden nach dem Sturz durch den Lüftungsschacht in einer völlig fremden Welt wiederfinden, gewinnt Gregor jedoch mit jeder heiklen Situation an Mut und Hoffnung und kann schließlich zu dem Krieger werden, den die Unterländer in ihm sehen. Obwohl er von Zweifeln und Ängsten geplagt wird, bricht er schließlich auf, um ihnen im Krieg gegen die Ratten zu helfen und seinen Vater zu retten. Damit ist die Geschichte um Gregor und seine Abenteuer eine klassische Heldenreise der fantastischen Jugendliteratur.
Was zunächst nach einer vorhersehbaren und etwas abgedroschenen Geschichte klingt, hält viel Spannung bereit. Ein gelungener Spannungsbogen mit einigen überraschenden Wendungen und interessante Figuren tragen zu einem wahren Lesevergnügen bei.
So sind die riesigen Kakerlaken zwar etwas dumm, aber loyal, hilfreich und überhaupt nicht ekelig. Und in brenzligen Situationen sind es nicht immer die Kampf- oder Flugkünste der eingebildeten Unterländer-Prinzessin Luxa und ihres großspurigen Cousins Henry, die die Rettung bringt, sondern zuweilen auch der Gerechtigkeitssinn der Zweijährigen, das Vertrauen in andere oder das Wissen, wie man einen Kompass baut. Die bunte Gesellschaft der Rettungsmission, zusammengewürfelt aus unterschiedlichen Spezies mit reichlich Vorbehalten gegeneinander, lernt dabei langsam die Vorzüge und Talente des jeweils anderen zu schätzen. Nur durch ihre Zusammenarbeit können sie schließlich die Gefahren der Unterwelt, die immer wieder schwierige Situationen für sie bereithält, meistern.
Gregor findet bei diesem Abenteuer nicht nur seinen Vater und die eigenen Fähigkeiten, sondern auch den Mut wieder zu träumen und die Wertschätzung für fremde Sitten und Spezies.
Suzanne Collins versteht es, mit wenigen einfachen Sätzen, fantastische Orte und fremde Figuren vor dem Auge des Lesers lebendig werden zu lassen. Gemeinsam mit Gregor entdeckt er eine fantasievolle, überzeugende und bedrohliche Welt kennen, mit eigenen Regeln, Bräuchen und Redeweisen. Zudem gelingt es ihr, eine spannende, actionreiche Geschichte zu erzählen, die die Grausamkeit des blutigen Krieges thematisiert und gleichzeitig eine kindgerechte Erzählweise beibehält. Ihr Held eignet sich gut als Identifikationsfigur. Er ist unsicher, aber auch fürsorglich, moralisch, gerecht und schlau. Zu seinem Vorbild und Mentor wird der Unterländer-König Vikus. Dessen Wille zu diplomatischen Lösungen und friedlichem Zusammenleben aller kann als wichtigste Lektion für Gregor gelten. Zwar sind einige Figuren vielschichtig und zunächst schwer zu durchschauen, doch die chronologische Handlung mit ihren kurzen Kapiteln und dem überschaubaren Personal bleibt gut verständlich und auch für Leseschwächere attraktiv.
Gregor und die graue Prophezeiung eignet sich bereits hervorragend für wenig geübte Leser. Durch seine Spannung, die relativ einfache Erzählweise und zahlreiche Themen, die aufgegriffen werden können (Toleranz und Respekt gegenüber anderen Kulturen, Figurenentwicklung und -beziehungen, Fremdheit und Fantastik…) eignet sich die Geschichte auch für den Literaturunterricht der 4. oder 5. Klassen; insbesondere für offene Leseförderformate.