Buchcover Die Krake im Nacken

Zero und seine Freunde erleben den Pausenhof als Kampfzone: Ständig muss man beweisen, wie mutig man...

Rezensiert von Emmanuel Breite

Es ist verboten, den dunklen Wald hinter der Schule zu betreten. Das wissen Zero und seine Freunde. Doch sie wollen die Mutprobe bestehen und geraten immer tiefer in den Wald hinein. Was sie dort unter den Bäumen entdecken, lässt ihnen das Blut in den Adern gefrieren… Das ungelöste Rätsel um den mysteriösen Fund wird Zero noch Jahre später Kopfzerbrechen bereiten. Und dann sind da noch Schuldgefühle, die ihm wie eine Krake den Hals zuschnüren.

BuchtitelDie Krake im Nacken
AutorZerocalcare (Michele Rech), übers. v. Myriam Alfano, illustr. v. Zerocalcare (Michele Rech)
GenreComing of Age
Comic & Graphic Novel
Lesealter14+
Umfang195 Seiten
Edition1. Auflage
Verlagavant-Verlag
ISBN978-3-96445-125-5
Preis25,00 €
Erscheinungsjahr2024

Zero und seine Freunde erleben den Pausenhof als Kampfzone: Ständig muss man beweisen, wie mutig man ist. Und so kommt es, dass sich Zero mit seinen Freunden Sarah und Secco in den verbotenen Wald nahe der Schule begibt. Dort machen sie einen mysteriösen Fund: Mitten im Wald entdecken sie einen Schädel. Zurück in der Schule erzählen die drei den anderen Kindern von ihrem Fund. Die furchteinflößende Lehrerin Arbizzati bekommt Wind davon und stellt Zero zur Rede. Weil er keinen Ärger bekommen will, greift Zero zu einer Notlüge und verpetzt Sarah. Und so wird schließlich nur sie für das Betreten des verbotenen Waldes bestraft. 

Seit diesem Erlebnis plagt Zero das schlechte Gewissen – auch Jahre später noch. Zero ist Teenager und mit den Fragen des Erwachsenwerdens beschäftigt. Aus den Mutproben der Kindheit sind nun Übergangsrituale geworden, in denen Jugendliche wie Zero ihre Männlichkeit beweisen müssen. Und als wäre diese Lebensphase nicht verwirrend genug, sind da noch die Gewissensbisse, die Zero belasten. 

Im letzten Teil der Geschichte treffen sich die drei Freunde, die mittlerweile 28 sind, wieder auf der Beerdigung ihrer früheren Lehrerin Arbizatti. Der Tod ihrer Lehrerin zwingt sie, sich mit ihrer Vergangenheit zu konfrontieren. Noch einmal wollen sie versuchen, das Geheimnis um den mysteriösen Schädel im Wald zu lüften, und stellen Nachforschungen an – doch ohne Erfolg. Am Ende der Geschichte fasst sich Zero ein Herz und gesteht Sarah, sie damals verpetzt zu haben. 

Eine Leseprobe ist verfügbar.

„Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft basiert u.a. auf geteilte Grunderfahrungen. Die Taufe, die sonntägliche Kommunion. Rituale eben. Wer nicht mitmacht, ist raus.“ (S. 7) In merkwürdig altkluger Manier versucht der kleine Zero seiner Freundin Sarah begreiflich zu machen, wovor er am meisten Angst hat: nämlich nicht dazuzugehören, ausgeschlossen zu werden, nicht Teil der Schulclique zu sein. In der autofiktionalen Graphic Novel Die Krake im Nacken erzählt der italienische Comiczeichner Zerocalcare, der mit bürgerlichem Namen Michele Rech heißt, in drei Episoden vom Erwachsenwerden und von den damit verbundenen Herausforderungen, Ängsten und Unsicherheiten. Er lässt die Leser*innen teilhaben an seinen persönlichen Erinnerungen an die Grundschule, an die turbulente Zeit als Teenager und an die prekären Jahre als junger Erwachsener. Mit viel Humor und spielerischer Leichtigkeit setzt sich Zerocalcare in seinem Comicroman mit den großen existenziellen Fragen des Erwachsenwerdens auseinander: „Mit 16 geht es nicht nur um Gruppenzugehörigkeit, um Anerkennung, das ganze Soziologenblabla. Da ist auch dieses ganze Pantheon von Idolen, die ihren Nachfolger in dir sehen und du darfst einfach ihre Erwartungen nicht enttäuschen.“ (S. 66) Wer bin ich und wer möchte ich sein? Wo gehöre ich hin? Bin ich bereit, Verantwortung für meine Entscheidungen zu übernehmen? Diese klassischen Coming-of-Age-Themen verpackt der Autor in eine spannende Mystery-Story. Die Krake im Nacken bietet somit Lesestoff für junge Leser*innen, die sich mit ähnlichen Fragen und Herausforderungen der Adoleszenz konfrontiert sehen wie die literarischen Figuren in der Graphic Novel. Der Comicroman wird aber auch all diejenigen ansprechen, die in erster Linie Spannung und Unterhaltung suchen. Mit zahlreichen popkulturellen Referenzen zu Videospielen, Animationsserien, Comics und Filmen knüpft die Graphic Novel an die jugendliche Lebenswelt vor allem männlicher Leser an. Gleichzeitig bricht der Text aber auch mit Geschlechterklischees und hinterfragt klassische Rollenbilder, indem er einen sensiblen, introvertierten und unsicheren Jungen, der in Mutproben immer wieder seine Männlichkeit beweisen muss, zur Hauptfigur macht. Zero wird so zu einer Identifikationsfigur, die ein alternatives Männlichkeitsbild repräsentiert und jugendliche männliche Leser zu Selbstreflexion und einem offenen Umgang mit Emotionen und Ängsten anregt.

Die Geschichte ist im Hinblick auf Umfang, Sprachstil, Vokabular und Syntax auch für Wenigleser*innen geeignet. Zudem unterstützen die Illustrationen im Cartoon-Stil das Textverstehen. Hervorzuheben ist nicht zuletzt die äußerst gelungene Übersetzung aus dem Italienischen, die den lebendigen, pointierten Erzählstil Zerocalcares und den humorvoll-ironischen Ton des Originals meisterhaft einfängt. Es finden sich im Text zwar einige Bezüge zur italienischen (Pop-)Kultur, besonders der 1980er und 1990er Jahre, die für deutsche Leser*innen meist nicht verständlich sind. In einem Glossar, das der deutschen Ausgabe angefügt ist, können unbekannte Begriffe jedoch problemlos nachgeschlagen werden. 

Das großformatige Buchcover, das im Unterschied zur Gestaltung des Innenteils in Farbe ist, zeigt in anachronistischer Darstellung den Protagonisten in drei unterschiedlichen Lebensphasen, und zwar als Kind, als Jugendlichen und als jungen Erwachsenen. Auf diese Weise wird die episodische Erzählstruktur bereits im Buchcover vorweggenommen. Zudem wird das zentrale Motiv des Titels visuell gespiegelt: Auf dem Cover sieht man schaurig aussehende Oktopusarme, die sich um den Hals des Protagonisten winden, der mit angsterfüllten Augen die Leser*innen direkt anzublicken scheint. Mit seiner simplen Zeichentechnik und seinem markanten cartoonhaften Stil trifft Zerocalcare den Geschmack einer jungen Generation. Die stilisierten Figuren in Die Krake im Nacken haben große Köpfe, eine übertriebene Mimik und klare Konturen. Zeichnerisch verknüpft Zerocalcare humorvolle Bilder mit düsteren, schweren Szenen und Elementen aus dem Horror- bzw. Mystery-Genre. Sein Stil ist außerdem stark beeinflusst von Cartoons, Mangas, Videospielen und Comics. Diese popkulturellen Referenzen erzeugen Nostalgie-Effekte und sprechen besonders eine jüngere (männliche) Zielgruppe an. 

Zerocalcare gelingt mit Die Krake im Nacken eine fesselnde und einfühlsame Graphic Novel, die gekonnt Coming-of-Age-Themen mit Mystery-Elementen verbindet. In einer eindrucksvollen Mischung aus Humor, Bildkraft und Ernsthaftigkeit und in einer ganz eigenen visuellen Sprache verhandelt Zerocalcare komplexe Fragen des Erwachsenwerdens, ohne dabei die erzählerische Dynamik zu vernachlässigen. 

Die Krake im Nacken eignet sich zum einen für die private Freizeitlektüre. Die Graphic Novel ist sprachlich-stilistisch so aufbereitet, dass der Textzugang von Jugendlichen allein und ohne Unterstützung bewältigt werden kann. Die Kombination von Sprache und Bild erlaubt eine multimodale Lektüre, wobei die visuellen Informationen das Textverständnis unterstützen. Auf inhaltlicher Ebene werden lebensnahe Themen und Stoffe behandelt, die durchaus komplex und unter Umständen auch emotional herausfordernd sein können. Diese Themen sind aber altersgerecht aufbereitet und werden durch symbolhafte Darstellungen (die „Krake“ als Metapher für Schulgefühle) und Humor zugänglich gemacht. 

Aus den genannten Gründen sollte die Graphic Novel auch in keiner Klassen- oder Schulbücherei fehlen und zur freien Lektüre im Schulkontext zur Verfügung stehen. Die lebensnahen Themen und Inhalte können durch die Sprache-Bild-Kombinationen niederschwellige aufgenommen werden. Die alltagssprachlichen Dialoge, die popkulturellen Referenzen und die subjektive Erzählinstanz fördern die Identifikation und sind anschlussfähig an die Lebenswelt von Jugendlichen. 

Wem Die Krake im Nacken gefällt, wird auch Freunde an weiteren Texten von Zerocalcare haben. Die Graphic Novel Vergiss meinen Namen behandelt ähnliche Themen wie der hier besprochene Text und weist die für Zerocalcare charakteristische Bildsprache auf. Ein weiterer Comickünstler, der seine Geschichten ebenfalls in jugendlichen Lebenswelten ansiedelt und ähnlich wie Zerocalcare empathisches, emotionales Erzählen mit humorvollen und tragischen Momenten anreichert, ist Mikael Ross. Besonders zu empfehlen sind die Comicromane Der verkehrte Himmel und Der Umfall.