Rezensiert von Tanja Hattermann
Torleif spielt leidenschaftlich gern Fiedel und lebt nach dem Tod seiner Mutter in einem Musikinternat in der Stadt, wo er echte Freunde findet und seine Homosexualität nicht länger verbergen muss. Doch als sein geliebter Großvater pflegebedürftig wird, kehrt Torleif in sein Heimatdorf zurück und muss sich zahlreichen Herausforderungen stellen. Der literarisch ansprechende Roman Zweiklang überzeugt durch einen sympathischen Protagonisten und ist besonders empfehlenswert für jugendliche Leser*innen, die sich für typische Coming-of-Age-Themen und/oder Musik begeistern lassen.
Buchtitel | Zweiklang/ Felefeber |
Autor | Elin Hansson/ Meike Blatzheim und Sarah Onkels |
Genre | Coming of Age |
Lesealter | 14+ |
Umfang | 317 Seiten |
Edition | 1. Auflage |
Verlag | Arctis |
ISBN | 978-3-03880-098-9 |
Preis | 19,00 € |
Erscheinungsjahr | 2025 |
Das Leben des musikbegeisterten Torleif ist nach dem Krebstod der Mutter völlig aus den Fugen geraten. Unverarbeitete Trauer, das schwierige Verhältnis zu Vater und Bruder sowie die Angst vor einem möglichen Outing haben tiefe Spuren hinterlassen. Nach einem Selbstmordversuch hat der Hardangerfiedel-Spieler sein norwegisches Heimatdorf verlassen und sich ein eigenes Leben in der Stadt aufgebaut. Der ca. 18-jährige Torleif besucht ein Internat und fühlt sich im Kreis seiner neuen Freunde geborgen. Hier kann er nicht nur seine Musikleidenschaft ausleben, sondern auch offen zu seiner Homosexualität stehen, während er sein wahres Ich zuhause aus Furcht vor homophoben Reaktionen selbst vor seiner Familie geheim hält.
Zwei Jahre später kehrt Torleif nun zurück, um in den Ferien seinen erkrankten Großvater Goffa zu unterstützen, der eine traditionelle Geigenbauwerkstatt betreibt. Schnell sieht er sich mit schmerzhaften Erinnerungen an den Tod der Mutter sowie wohlbekannten Vorurteilen der Dorfbewohner*innen konfrontiert. Auch zu seinem wortkargen Vater und dem älteren Bruder – beides passionierte Elchjäger – bleibt das Verhältnis angespannt. Selbst die geteilte Verlusterfahrung führt die Familienmitglieder zunächst nicht zusammen, jeder trauert für sich allein. Emotionalen Rückhalt findet der sensible Torleif vor allem bei seinem Großvater. An der Musikschule, an der er vertretungsweise als Kursleiter einspringt, lernt er den jungen Kintsugi-Künstler Horimyo kennen und verliebt sich in ihn. Ausgerechnet auf dem Abschlusskonzert seines Hardangerfiedel-Kurses kommt es dann zum Eklat: Torleif wird von einem jungen Dorfbewohner vor dem versammelten Publikum als schwul geoutet. Es kommt zu einer Schlägerei, bei der die wertvolle Meisterfiedel seines Großvaters stark beschädigt wird. In seiner Verzweiflung leugnet Torleif zunächst weiterhin seine Homosexualität, setzt damit jedoch Horimyos Vertrauen in ihre Liebesbeziehung aufs Spiel. Erneut wird Torleif von Selbstzweifeln gequält und zieht sich von seiner sozialen Umwelt zurück. Dank der Unterstützung seiner Freunde findet er jedoch seinen eigenen Weg aus der Krisensituation: Im Pub spielt Torleif sein Herzenstück „Felefeber“ für Horimyo und bekennt sich damit öffentlich zu seiner Liebe. Goffa und Horimyo übergeben ihm die gemeinsam reparierte Meisterfiedel.
Eine Leseprobe ist verfügbar.
Zweiklang ist ein im besten Sinne typischer skandinavischer Jugendroman. Es handelt sich um eine atmosphärisch dichte Coming of Age-Story mit Tiefgang über Identitätssuche und Umgang mit Verlust, die durch ihren authentischen Erzählton und ihr ungewöhnliches Setting des norwegischen Dorflebens begeistert. Dabei wird eine Fülle universeller wie ernster Themen (u.a. Trauerbewältigung, Selbstfindung, Familienkonflikte) aufgegriffen, die jungen Leser*innen zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten bieten, ohne dass das Buch jedoch überfrachtet oder zu belastend daherkommt: sei es das Erleben von tiefer freundschaftlicher Verbundenheit und erster großer Liebe, das komplizierte Verhältnis zu Vater und Bruder oder auch die Überwindung von Trauer und Ängsten im Sinne von Selbstwirksamkeitserfahrungen. Torleifs Verzweiflung nach dem traumatischen Verlust seiner Mutter sowie die Sorge vor Vorurteilen aufgrund seiner Homosexualität werden Leser*innen ähnlichen Alters bestimmt gut nachvollziehen können, selbst wenn sie selbst keine ähnlichen Erfahrungen durchleben (mussten). Zudem werden weitere allgemeine Themen verarbeitet, die vielfältige Anknüpfungspunkte an jugendliche Erfahrungswelten eröffnen, wie z.B. Umgang mit Queerness, Unterschiede zwischen Stadt- und Landleben, Leidenschaft für Musik und Bedeutung von Traditionen.
Im Mittelpunkt des Romans steht - von ganz wenigen zentralen Szenen abgesehen - keine spannende äußere Handlungsdynamik. Vielmehr resultieren die gewichtigen Spannungsmomente aus Torleifs Innenperspektive und der Figurenkonstellation. Ein großes Plus dieses Romans ist der Bruch mit dem Typus des starken Jungen, der keine Gefühle oder Schwäche zeigen darf. Denn die männliche Hauptfigur Torleif entspricht diesem Stereotyp ganz und gar nicht, sondern überzeugt in seinem Verhalten, seinen Träumen und Sehnsüchten mit emotionaler Aufrichtigkeit. Torleif ist ein durch und durch glaubwürdiger, sympathischer Protagonist, den jugendliche Leser*innen in seinem persönlichen Entwicklungsprozess ganz nah und ungefiltert begleiten können. Am Ende des Buches ist Torleif auf einem guten Weg, seinen Platz im Leben zu finden. In diesem Zusammenhang wird auch die Relevanz von Freundschaft und sozialer Eingebundenheit eindrucksvoll deutlich. Seine ehemalige Geigenlehrerin und mütterliche Freundin Anne fungiert als Mentorin für Torleif. Erst nach einem Gespräch mit ihr bringt er endlich den Mut auf, sich seinen besten Freund*innen Kim und Rada gegenüber ganz zu öffnen und von dem Suizidversuch zu berichten. Torleif erhält viel Unterstützung von ihnen und entwickelt langsam ein Gefühl von Selbstakzeptanz.
Besonders gelungen erzählt ist auch das enge, vertrauensvolle Verhältnis von Torleif zu seinem Großvater. Die beiden verstehen sich nicht nur in der Fiedelwerkstatt ohne viele Worte: „Doch die Stille zwischen Goffa und mir ist eine andere als die zwischen Vater, Tallak und mir. Sie hat etwas von dem Samtbezug in einem Geigenkoffer. Es tut gut, dass sie da ist. Zwischen Vater, Tallak und mir klingt sie dagegen wie eine höher gestimmte E-Saite. Immerzu am Kipppunkt.“ (S. 30) So ist es Goffa, der seinem Enkel auf seine ganz eigene Art bei der Trauerbewältigung zur Seite steht und ihn im schwierigen Prozess der Selbstakzeptanz liebevoll unterstützt. Er zeigt Torleif mittels der heilenden Kraft der Musik einen Weg aus der Trauerstarre auf, indem er ihn ermutigt, sich das geliebte Musikstück „Felefeber“, das zur Beerdigung der Mutter gespielt wurde, zurückzuerobern. Trotz gegensätzlicher Interessen und Lebensentwürfe findet zudem eine vorsichtige Annäherung zwischen Torleif und seinem Vater sowie seinem schroffen Bruder Tallak statt, z.B. beim gemeinsamen Sortieren der Erinnerungsstücke an die Mutter.
Erwähnenswert ist ebenfalls, dass auch die Nebenfiguren (z.B. Kim, Tallak, Anne) als nuanciert gezeichnete Charaktere überzeugen und das Beziehungsgeflecht der Familienmitglieder und Dorfbewohner*innen wirklich authentisch wirkt.
Der Roman wurde von Meike Blatzheim und Sarah Onkels aus dem Norwegischen übersetzt und wartet mit einer durchaus poetischen, aber gleichzeitig gut zugänglichen Sprache auf. So verwendet der Ich-Erzähler Torleif originelle sprachliche Bilder zur Illustration seiner Gefühls- und Gedankenwelt: „Mit jeder Note, die ich spiele, ist es, als ob ein Teil des Schmerzes aus mir rausgeschwemmt würde. Die Musik ist wie Strahlung. Sie findet all die miesen kleinen Tumore, die sich in meinem Inneren festgesetzt haben. Jene, die kein Skalpell je hätte entfernen können. Doch die Töne finden sie, zermalmen sie. Und langsam, langsam löst sich alles in mir auf“ (S. 65). Auch der dialektale Einschlag der Dorfbewohner*innen und die eingestreuten jugendsprachlichen Elemente tragen zu einem ganz eigenen Erzählsound bei.
Die Covergestaltung könnte potentielle männliche Leser leider auf eine falsche Fährte führen. Die japanisch angehauchten Motive in Kombination mit den Pastelltönen wecken womöglich Assoziationen an kitschige Liebesromane. Das ist schade, denn das Buch ist thematisch so viel gehaltvoller, zumal die eigentliche Liebesgeschichte erst im zweiten Teil eine zentrale Rolle einnimmt, dabei aber keinesfalls in Kitsch oder Sentimentalitäten abgleitet.
Fazit: Der auch sprachlich beeindruckende Roman ist besonders für Leser*innen zu empfehlen, die Interesse an typischen Themen der Adoleszenz wie Identität und Selbstakzeptanz zeigen und bereit sind, sich auf ein besonderes Lektüreerlebnis ohne klassischen Spannungsaufbau einzulassen. Vorkenntnisse über Musik oder gar die norwegische Musiktradition sind nicht erforderlich!
Zweiklang eignet sich aufgrund der Reichhaltigkeit an adoleszenten Themen (Identitätssuche, Bewältigung von persönlichen Krisen, zwischenmenschliche Beziehungen) in erster Linie als Freizeitlektüre für Jugendliche, die nicht auf ein hohes Maß an äußerer Handlungsspannung angewiesen sind, sondern gern über die Entwicklungs- und Reifungsprozesse junger Protagonist*innen lesen.
Im schulischen Kontext empfiehlt sich der Roman für den Einsatz in freien Leseformaten oder für Buchvorstellungen, z.B. als Teil einer genre- oder themenspezifischen Bücherkiste (Coming of Age, Musik, Queerness/Diversity). Wem Zweiklang gefällt, der wird vielleicht im Anschluss auch zu Titeln wie Nur ein wenig Angst von Alexander Kielland Krag oder Hard Land von Benedict Wells greifen.
Mit Blick auf literarische Lernprozesse könnten z.B. im Deutschunterricht, für den die Lektüre ab Jahrgang 9 ebenfalls geeignet erscheint, neben der Figurenkonstellation und inneren Entwicklung des Protagonisten auch die Metaphern thematisiert werden. Erste Anknüpfungspunkte für einen fächerübergreifenden Unterricht (Deutsch und Musik) bietet die Playlist mit Songs aus dem Buch, um einen Einblick in die norwegische Musiktradition am Beispiel der Hardangerfiedel zu erhalten.