Buchcover Tyger

Adam lebt mit seiner Familie in Soho, einem Ghetto für Ausländer in einem fiktiven dystopischen...

Rezensiert von Kristina Schmitt

Der Junge Adam entführt uns in ein dystopisches London, das von fantastischen Wesen und wilden Abenteuern nur so wimmelt. Gemeinsam mit seiner Freundin Zadie verfolgt er eine Mission: Sie müssen ein magisches Tor öffnen, um nicht nur die geheimnisvolle Wildkatze Tyger zu retten, sondern damit auch die zerrüttete Welt. Eine mystische Geschichte über Mut, Hoffnung und Freundschaft, in der zwei Jugendliche auf wundervolle Weise über sich hinauswachsen. 

BuchtitelTyger
AutorS.F. Said, illustr. v. Dave McKean
Lesealter12+
Umfang300 Seiten
Edition1. Auflage
VerlagKaribu
ISBN9783961294114
Preis18,99 €
Erscheinungsjahr2024

Adam lebt mit seiner Familie in Soho, einem Ghetto für Ausländer in einem fiktiven dystopischen London, in dem Rassismus, Unterdrückung, Sklaverei, Gewalt und Hinrichtungen verbreitet sind. Weil Adams Eltern aus dem Nahen Osten stammen, wird die Familie diskriminiert und ausgegrenzt. So darf der Junge auch nicht die Schule besuchen und hilft seinen Eltern in ihrem Laden. Für geschäftliche Botengänge kann Adam das Ghetto verlassen, wird auf den Straßen Londons jedoch stetig angefeindet, von Soldaten schikaniert und bedroht. Als er durch einen Raubüberfall in Not gerät, rettet ihm in letzter Sekunde Tyger, ein übernatürliches unsterbliches Wesen in der Gestalt einer Wildkatze, das Leben. Doch Tyger ist selbst in Gefahr und wird von seinem Erzfeind, dem Tyrannen Urizen verfolgt. Adam ist wild entschlossen, das mystische Wesen gemeinsam mit seiner neuen Freundin Zadie zu befreien. Auf der Suche nach einem Tor zu einer anderen Welt müssen die Jugendlichen ihre eigene magische Kraft entdecken und entfalten. Gemeinsam stellen sie sich den gefährlichen Herausforderungen und wachsen dabei nicht nur zusammen, sondern auch über sich hinaus. 


Eine Leseprobe ist verfügbar.

Tyger überzeugt vor allem durch eine hohe Spannung und interessante Protagonist*innen, die die Leser*innen in den Bann der mystischen Geschichte ziehen. Die Spannung setzt bereits auf den ersten Seiten des Romanes ein, als Adam am Grenzübergang zwischen Ghetto und Stadt von Soldaten schikaniert wird. Im London der Oberschicht wird er überfallen und von der Raubkatze Tyger gerettet. Damit beginnt die Handlung unmittelbar sowie actionreich und die Charaktere Adam und Tyger werden schnell eingeführt. Auf diese Weise wird die Lesemotivation von Beginn angeregt und die Identifikation mit den Protagonist*innen wird fortlaufend intensiviert. 


Die besondere Freundschaft zu der geheimnisvollen Raubkatze, die wie ein Mentor auf ihn einwirkt, ermöglicht Adam eine echte und authentische Entwicklung. Gemeinsam mit seiner Freundin Zadie will er das verletzte und bedrohte Wesen Tyger und damit auch die Welt retten. Die jungen Held*innen begeben sich auf den Weg, ihre eigene Kraft und Magie zu entdecken. Voller Mut und Hoffnung wachsen sie dabei über sich hinaus. Die Erfahrungen und Wege zur Steigerung ihrer Wahrnehmung und Magie sind zum Teil sehr abstrakt und erfordern von den Leser*innen viel Vorstellungskraft. Für ungeübte Leser*innen könnte dies eine kleine Herausforderung darstellen. Dennoch lässt sich das Abenteuer und die spannende Geschichte auch miterleben, wenn diese Teile nicht gänzlich nachvollzogen werden können.


Beeindruckend sind zudem die zahlreichen Illustrationen von Dave McKean. Diese tragen eine doppelte Bedeutung, denn Zeichnungen spielen auch in der Geschichte eine große Rolle: Mit seinem Talent und seiner Leidenschaft fürs Zeichnen, eine verbotene Aktivität in dieser fiktiven Welt, findet Adam eine Möglichkeit, sich trotz der gesellschaftlichen Unterdrückung auszuleben. Dieser Aspekt, sich durch Kunst auszudrücken, kann für junge Leser*innen nachvollziehbar und motivierend sein. 


Thematisch weist das Buch einige Aspekte auf, die der Altersgruppe angemessen sind, aber durchaus Gesprächsbedarf auslösen können: Die Darstellung der dystopischen Gesellschaft, in der drastische Szenen der Diskriminierung, Sklaverei, Galgenhängungen etc. geschildert werden, kann gegebenenfalls Fragen und Unsicherheiten aufwerfen, die bei sehr sensiblen Gemütern eine Begleitung der Lektüre erfordern können. Dies wird durch stilistische Zuspitzungen auf dramatische Weise verstärkt: So werden beispielsweise auf der einen Seite nur die sehr arme, unterdrückte Unterschicht im Ghetto und auf der anderen Seite die sehr reiche, dominante (hauptsächlich `böse´) Oberschicht dargestellt. Dies ist zwar ein stark vereinfachtes gesellschaftliches Abbild, intensiviert jedoch die bedrohliche Atmosphäre der zerrütteten Weltordnung der Dystopie und lässt die Leser*innen Adams Motivation, das Wesen Tyger und damit die Welt retten zu wollen, nachempfinden. Der positive Ausgang der Geschichte, in der das `Gute´ über das ?Böse´ siegt sowie die Entwicklung der Charaktere zu mehr Mut und Stärke hinterlassen ein Gefühl von Hoffnung, sodass die schweren Themen des Romans entschärft werden können.


Auf sprachlicher Ebene ist der Text zugänglich, durch den zum Teil poetischen Stil sehr eindringlich, aber dennoch gut verständlich und klar, sodass ein schneller Lesefluss ermöglicht wird. Auch Satzbau und Wortwahl sowie die verhältnismäßig große Schriftgröße und die überschaubare Kapitellängen entsprechen der Zielgruppe und tragen zur Lesemotivation bei, sodass die ca. 300 Seiten für ungeübte Leser*innen gut machbar sind. Die fantastischen Illustrationen, die sich zum Teil über mehrere Seiten erstrecke, lockern den Textumfang zusätzlich auf.


Alles in allem überzeugt Tyger mit Spannung, Magie und abwechslungsreichen Charakteren und zeigt somit wesentliche Aspekte auf, die ein Roman mitbringen sollte, um Jugendliche zum Lesen zu motivieren.

Für die Leseförderung bietet Tyger interessante Anknüpfungspunkte durch intertextuelle Bezüge zum englischen Dichter William Blake. Hier könnten die literarischen Stoffe der Romantik erforscht und Bezüge hergestellt werden (z.B. zum Gedicht The Tyger, dem prophetischen Buch The Book of Urizen, usw.). Darüber hinaus bietet es sich an, in Zusammenhang mit Saids Roman und dem romantischen Gedicht Blakes durch handlungs- und produktionsorientierte Verfahren selbst kreativ zu werden, z.B. in textproduktiven Aufgaben im Spiel mit Lyrik und Epik. Aber auch durch die Illustrationen im Buch und die Leidenschaft Adams fürs Zeichnen könnten Jugendliche dazu animiert werden, im handlungsorientierten visuellen Ansatz selbst gestalterisch tätig zu werden und damit einen intensiveren Zugang zum Roman zu gewinnen.


Potenzial für die Leseförderung stellt auch die Szenerie des Romanes dar. London als moderne Weltmetropole ist ein reizvolles Setting und durch reale Straßennamen etc. können junge Leser*innen gegebenenfalls an Vorwissen über die Stadt anknüpfen. Dass Tyger im 21. Jahrhundert spielt, die fantastische Welt jedoch ganz anders aufgebaut ist und ein dystopisches Szenario aufzeigt, kann beim Lesen durchaus zu Irritationen führen. Umso interessanter ist dieser Aspekt für weiterführende Unterrichtsgespräche, Diskussionen und Recherchen.


In einem interdisziplinären Kontext stellen Themen wie Rassismus, Sklaverei, Gewalt essenziell wichtige Themen zur unterrichtlichen Behandlung dar. Durch das hoffnungsvolle Ende kann nicht nur über die Schattenseiten der negativen Darstellungen im Buch diskutiert werden, sondern auch über Handlungsmöglichkeiten jedes Einzelnen für mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft und Demokratiebildung.