Rezensiert von Dr. Emmanuel Breite
Ein abgetrennter Finger im Gebüsch am Rande einer Berliner Plattenbausiedlung. Ein geheimnisvolles Mädchen auf der Flucht. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem grausigen Fund und dem verängstigten Mädchen? Die Teenager Tâm, Dennis und Alex beginnen Nachforschungen anzustellen und kommen dabei einem Menschenhändlerring auf die Spur. Ein spannend und rasant erzählter Thriller mit ausdrucksstarken S/W-Zeichnungen im Stil japanischer Mangas.
Buchtitel | Der verkehrte Himmel |
Autor | Mikael Ross, illustr. v. Mikael Ross |
Lesealter | 14+ |
Umfang | 342 Seiten |
Edition | 1. Auflage |
Verlag | avant-verlag |
ISBN | 978-3-96445-108-8 |
Preis | 28,00 € |
Erscheinungsjahr | 2024 |
Die beiden Geschwister Tâm und Dennis besuchen den polnischen Grenzmarkt, um ein paar Schnäppchen zu machen. Mit ihren neu erworbenen Inline-Skates knallt Tâm in ein parkendes Auto. Als die zwei Teenager einen Zettel mit ihrer Adresse hinterlassen möchten, bemerken sie ein Mädchen, das im Fahrzeug eingeschlossen ist. Durch das Dachfenster reichen Tâm und Dennis den Zettel mit der Adresse und machen sich auf den Heimweg.
Szenenwechsel: Alex, ein Mitschüler von Tâm, verfolgt mit seiner Drohne einen Mann in einem SUV. Der Jugendliche beobachtet, wie der Unbekannte einen Rucksack und eine Tüte aus dem Auto wirft. In dem Rucksack findet Alex die Notiz mit der Adresse der beiden Geschwister und in der Tüte einen abgetrennten Finger. Er berichtet Tâm von seinem Fund und diese ist sich sicher: Der Mann im Van hat etwas mit dem Mädchen vom Parkplatz zu tun. Tâm kann das Mädchen ausfindig machen und erfährt ihre Geschichte: Sie heißt Hoa Binh und ist Opfer von Menschenhändlern geworden. Die Vietnamesin ist illegal nach Europa gelangt und befindet sich nun auf der Flucht vor ihrem Schleuser – dem SUV-Fahrer, dem auch der abgetrennte Finger gehört. Tâm gewährt ihr Unterschlupf. Doch auf einmal ist Hoa wieder verschwunden. Tâm begibt sich erneut auf die Suche nach ihr und findet sie schließlich in einer abgelegenen Lagerhalle: Hoa hat sich einer neuen Schleusergruppe angeschlossen. Vergebens versucht Tâm sie von ihrem Plan abzubringen. Hoa hat ihre Entscheidung bereits getroffen.
Eine Leseprobe ist über den avant-verlag verfügbar.
Der verkehrte Himmel ist Krimi/Thriller, Entwicklungsroman und Tragikomödie zugleich: Wilde Verfolgungsjagden und brutale Schlägereien finden sich darin genauso wie tiefsinnige Gespräche und witzige Szenen, die einen garantiert zum Schmunzeln bringen. Das Buch spricht daher eine breite Zielgruppe an. Vor allem für Jungen, die Action und Spannung suchen, eignet sich die Graphic Novel. Aber auch Jugendliche, die Stoff zum Nachdenken brauchen, kommen auf ihre Kosten. Denn davon bietet das Buch reichlich. In Der verkehrte Himmel geht es um die Themen Migration, Flucht und internationaler Menschenhandel. Dabei wird die Fiktion um reale Elemente angereichert: Über Berlin verläuft tatsächlich eine Schleuserroute und insbesondere der Bezirk Berlin-Lichtenberg, der Ort der Handlung, gilt als ein berüchtigter Umschlagplatz für Menschenhändler.
Der verkehrte Himmel ist aber auch eine gut recherchierte und fein beobachtete Milieustudie. Die Menschen und ihr soziales Umfeld werden genau und differenziert beschrieben. Mikael Ross gelingt es, die Gedankenwelt, die Sprache und das Verhalten der Jugendlichen im Text treffend zu charakterisieren, ohne sie bloßzustellen. Die Dialoge wirken lebensnah, die jugendlichen Figuren agieren glaubhaft und nachvollziehbar. Zwar stehen die weiblichen Figuren im Fokus, doch der Text bietet mit seinen unterschiedlichen charakterstarken Figuren auch für männliche Leser ausreichend Identifikationspotenzial. Da ist etwa der Einzelgänger Alex, der von der großen Schauspielkarriere träumt. Er ist auf sich allein gestellt, weil seine Mutter rund um die Uhr arbeiten muss. Und da ist auch Dennis, der zusammen mit seine Schwester Tâm in einem sehr strengen, aber auch wohl behüteten Elternhaus aufwächst.
Mit über 300 Seiten ist der Textumfang zwar anspruchsvoll und auch die Handlung ist mit ihren verschiedenen Erzählsträngen komplex. Zu berücksichtigen ist aber, dass der Autor über längere Sequenzen nur die Bilder erzählen lässt und Satzstruktur sowie Sprache eher einfach gehalten sind, sodass das Buch durchaus auch für die Zielgruppe der Wenigleser*innen angemessen ist.
Im Hinblick auf die visuelle Gestaltung überzeugt die Graphic Novel auf ganzer Linie. Die Zeichnungen sind von der Ästhetik japanischer Mangas inspiriert: Schwarzweiß-Optik, gerasterte Hintergründe für dunklere Flächen, überzeichnete Mimik der Figuren. Die schnellen Dialoge finden ihre Entsprechung in einer Bildkomposition, die an die Dramaturgie eines Actionfilms erinnert. Die Szenen werden in einzelne Bilder zerlegt, das Tempo wird durch Bewegungslinien gesteigert. Doch Mikael Ross ist auch auf Dynamik bedacht: Auf rasante Action folgen auch immer wieder feinfühlige und berührende Passagen, in denen die Emotionen der Figuren viel Raum bekommen.
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass Der verkehrte Himmel Heranwachsende mit ganz unterschiedlichen Lesemotiven und -interessen anspricht. Die Graphic Novel ist ein spannender und unterhaltsamer Action-Thriller, der in einem Zug gelesen werden kann. Mit den ernsten Themen, die das Buch behandelt, bietet es aber auch reichlich Stoff zum Nachdenken und Innehalten. Und nicht zuletzt wird Der verkehrte Himmel auch die Comic-Fans überzeugen.
Der verkehrte Himmel eignet sich für die private Einzellektüre und sollte auch in keiner Klassen- bzw. Schulbücherei fehlen. Zwar ist das Buch in seiner Dramaturgie durchaus komplex und auch die im Text verhandelten Themen (Migration, Flucht, internationaler Menschenhandel) sowie die Bild-Sprache-Kompositionen verdienen eine tiefergehende Analyse. Doch die Graphic Novel kann problemlos auch zur reinen Unterhaltung gelesen werden. Die spannungsgeladene Erzählweise, die lebensnahe Sprache, glaubhafte Figuren mit Identifikationspotenzial und die ansprechende visuelle Gestaltung ermöglichen einen schnellen Textzugang, sodass die Graphic Novel auch ohne Unterstützung bewältigt werden kann.
Der verkehrte Himmel spricht unterschiedliche Interessen und damit eine breite Zielgruppe an. Das Buch empfiehlt sich daher auch für die Klassenlektüre. Aufgrund der herausfordernden Themen, die das Buch aufgreift, eignet es sich zur intensiveren Lektüre im Rahmen einer Unterrichtseinheit. Aber nicht nur auf inhaltlicher Ebene bietet der Text zahlreiche Anknüpfungspunkte. Auch unter sprachlichen sowie literar- und visuell-ästhetischen Aspekten kann die Graphic Novel in den Blick genommen werden: Intertextuelle Phänomene, Mehrsprachigkeit und nicht zuletzt auch das Zusammenspiel von Sprache und Bild können im Unterricht zum Thema gemacht werden.