Buchcover Scandor

Phillipp will seinem Schwarm beweisen, was für ein toller Hecht er ist, und da kommt ihm das...

Rezensiert von Barbara Reidelshöfer 

Scandor enttarnt die kleinste Lüge. Jede Schwindelei. Jede Notlüge. Tag und Nacht. 100 Menschen treten in der mysteriösen Challenge an – aber nur einer kann gewinnen. Auch Philipp offenbart für die Aussicht auf 5 Millionen Euro Preisgeld seine größte Angst. Wird er es schaffen, nicht zu lügen? Unfaire Gegner ausschalten? Und herausfinden, welche Geschichte eigentlich hinter Scandor steckt? Wer rasant geplottete Thriller liebt, der kommt bei Ursula Poznanskis neuem Roman voll auf seine Kosten!

BuchtitelScandor
AutorUrsula Poznanski
Lesealter14+
Umfang448 Seiten
Edition!. Auflage
VerlagLoewe
ISBN978-3-7432-1659-4
Preis19.95 €
Erscheinungsjahr2024

Phillipp will seinem Schwarm beweisen, was für ein toller Hecht er ist, und da kommt ihm das ungewöhnliche Angebot einer Challenge genau recht. 5 Millionen Euro Preisgeld – wer könnte da nein sagen? Auch die Aufgabe klingt bewältigbar: Ein Lügendetektor, Scandor, soll von insgesamt 100 Menschen getestet werden. Was sich zunächst wie ein spannendes Spiel anhört, wird immer unheimlicher: Schon bei der Anmeldung zur Challenge muss Phillipp einen Wetteinsatz nennen: Fliegt er aus dem Spiel, muss er sich seiner größten Angst stellen. Und langsam schwant ihm, dass das ziemlich schnell gehen kann. Denn Scandor wird ihm eingepflanzt und bewacht so Tag und Nacht jede noch so kleinste Reaktion und Äußerung von ihm. Keine Notlüge, kein Schwindeln ist damit nötig und Philipp realisiert sehr schnell, wie übervoll der menschliche Alltag von Lügen ist. Schnell fliegen die ersten Mitspieler*innen aus dem Spiel, weil sie sich verplappern, nicht schnell genug von ihrem bisherigen Kommunikationsverhalten auf erbarmungslose Ehrlichkeit umschalten können, weil sie in Situationen geraten, in denen Lügen die einzige Möglichkeit ist. Phillipp dagegen schlägt sich tapfer und lernt nebenbei noch eine Mitspielerin näher kennen: Tessa ist dringend angewiesen auf eine Finanzspritze. Sie hangelt sich von Job zu Job und wächst in schwierigen Familienverhältnissen auf. Das Geld der Challenge würde ihr ein Leben in Freiheit und Sorglosigkeit bescheren, weswegen sie alles daransetzt, die Challenge gut zu meistern. Allerdings spielt sie nicht mit unfairen Mitteln. Im Gegenteil, zwischen ihr und Phillipp entsteht eine enge Beziehung. Nach einer Weile realisieren sie, dass es dem Auftraggeber der Challenge um etwas ganz anderes geht als die Optimierung Scandors und sie beide die Hauptrolle bei der Suche nach einer ganz persönlichen Wahrheit spielen…

Eine Leseprobe ist bei dem Verlag Loewe einsehbar. 

Man kann sich nicht auf viel verlassen, aber darauf, dass der neue Poznanski-Roman wieder Spannung und Lesefreude mit sich bringt, kann man fast schon sein letztes Hemd verwetten. Beinahe immer greift die Bestseller-Autorin in ihren Romanen Themen auf, die brisant und höchst aktuell sind, manchmal ist sie darin ihrer Zeit voraus. Während man immer auf rasante Plots und gute Unterhaltung vorfreudig warten kann, rätselt man bis zum Erscheinungsdatum zuverlässig, worum sich der neue Roman wohl drehen könnte. Und dann hält man Scandor in seinen Händen und ist verblüfft! Denn es geht nicht etwa um KI (kein Wunder, das Thema hat Poznanski ja bereits in ihrem Erwachsenenthriller Die Burg verbraten), sondern um ein alltägliches, fast schon altmodisches Thema: Lügen. 

Poznanski spielt mit diesem Thema meisterlich und problematisiert neben der Frage nach der Moral beim Lügen auch die Vorstellung, dass die Menschheit kurz davorsteht, im menschlichen Miteinander ohne Geheimnisse zu bleiben, weil jede*r Einzelne aufgrund der technischen Entwicklung so einfach zu lesen ist wie ein Buch.

Es entfaltet sich ein packender Thriller um zwei sympathische Protagonist*innen, die viele Möglichkeiten zur Identifikation geben. So ist Phillipp ein durchschnittlicher Junge, der mehr oder weniger zufällig in eine Challenge hineintappt, mit der er eigentlich nur seinen Schwarm beeindrucken will. Tessa dagegen ist ein toughes Mädchen, das allerlei familiäre Probleme mit sich herumträgt und dennoch ihr Leben allein gut meistert. An ihr werden die kleinen Alltagslügen amüsant durchdekliniert, denn nach Beginn der Challenge muss die einst zuvorkommende Bedienung nun ihren Gästen allerlei unangenehme Wahrheiten ins Gesicht sagen, um nicht aus dem Spiel geworfen zu werden. Im Gegensatz zu manch anderen Mitspieler*innen (oder sollte man besser sagen: Gegenspieler*innen) gelingt ihr das problemlos, da sie nicht nur gewitzt und blitzgescheit ist, sondern auch eine besonders hohe Motivation hat, im Spiel zu bleiben. 


Die Freundschaft zwischen Phillipp und Tessa wird gut nachvollziehbar geschildert, das Changieren zwischen Notgemeinschaft, Freundschaft und sich anbahnenden Verliebtheitsgefühlen dürfte die lesenden Mädchen und Jungen besonders ansprechen. Dass die jeweilige Perspektive immer kapitelweise versetzt erzählt wird, erhöht die Spannung und das Tempo des Romans zusätzlich. 


Wie immer bei Poznanski werden die Leser*innen mit allerlei Irrwegen, falschen Fährten, mysteriösen Anspielungen und viel Nervenkitzel durch die Handlung geführt. So kann man Scandor kaum aus den Händen legen, möchte man doch im zunehmenden Verlauf der Handlung unbedingt wissen, was eigentlich hinter dem Lügendetektor steckt und wie die wahren Zusammenhänge zwischen einigen seltsam anmutenden Zufällen sind. Welche Verbindung gibt es eigentlich zwischen Phillipp und Tessa? Was bedeuten die seltsamen Fotos? Wer zieht im Hintergrund alle Fäden und warum? Wie ist Scandor überhaupt auf die Kandidat*innen der Challenge gekommen? Zufall kann das wohl kaum gewesen sein… Aber was wirklich hinter der Challenge und Scandor steckt, wird erst in einer überraschenden Wendung gegen Ende der Romanhandlung klar. 


Scandor ist ein rundum spannendes Buch, das durch die eingestreuten, kurzweiligen `Lügen-Passagen´ den klassischen Thrillermodus immer wieder hinter sich lässt, ohne an Spannung zu verlieren. Er regt auf beiläufige Art zum Nachdenken über die Notwendigkeit und Rechtfertigung von Lügen in unserem Alltag an. Da ein recht hohes Figurenarsenal vorliegt und der Roman fast 500 Seiten lang ist, ist der Roman nicht für ganz leseschwache Schüler*innen zu empfehlen. Fortgeschrittenen Leser*innen und v.a. Jugendliche, die vielleicht als Kind gerne gelesen haben, nun aber keinen für sie interessanten Lesestoff finden, bietet Scandor aber einen leicht zugänglichen Einstieg in das Genre des Thrillers. 

Scandor eignet sich als freie Lektüre im schulischen Kontext. Da Ursula Poznanski sich allgemein hoher Beliebtheit bei Jugendlichen erfreut und auch Scandor bereits auf der Spiegel-Bestseller-Liste steht, sollte der Roman in der schuleigenen Bibliothek nicht fehlen, um individuelles Lesen oder differenzierende und leseanimierende Leseprojekte (z. B. Book-Slam, Erstellen eines Podcasts oder Buchtrailers) zu ermöglichen.

Wem dieser Roman gefällt, der interessiert sich auch für andere realistische Thriller von Ursula Poznanski wie Thalamus, Aquila, Shelter oder Oracle und kann so anhaltende Lesefreude entwickeln. 


Scandor ist aber nicht nur für Leseprojekte oder als private Lektüre für Jugendliche ab 14 vollends zu empfehlen. Der Roman ist ein spannender Pageturner, der auch klassische Elemente eines Thrillers aufweist und so auch als Genremodell dienen kann. Die Thematik des Lügens bietet interessante Reflexions- und Diskussionsansätze für den Deutsch- oder auch Ethikunterricht, die im Unterricht zur vertieften Auseinandersetzung und zur Werteerziehung aufgegriffen werden können. Immerhin wird schon in Goethes Faust gelogen und in vielen anderen Klassikern sind Lüge, Verschweigen und Intrige wichtige Handlungsmomente. Ein dazu passendes Unterrichtsmodell, das sich sinnvoll mit (Auszügen aus) Scandor verknüpfen ließe, findet sich in der deutschdidaktischen Zeitschrift Praxis Deutsch 300 / 2023.