Rezensiert von Tanja Hattermann
Zwischen Partynächten und Fußballspielen gerät das Leben des 17-jährigen Cornelius schlagartig aus den Fugen, als er unverhofft von immer intensiveren Panikattacken gequält wird und sich zunehmend von seinen Freunden zurückzieht. Wie kann Cornelius den Teufelskreis aus Angst, Scham und Hilflosigkeit durchbrechen? Nur ein wenig Angst verhandelt das wichtige Thema psychische Erkrankungen sehr nah an der jugendlichen Lebensrealität und überzeugt durch eine wirklich authentische Hauptfigur. Der Roman ist durch kurze, einfache Sätze leicht zugänglich und dabei literarisch ansprechend geschrieben.
Buchtitel | Nur ein wenig Angst |
Autor | Alexander Kielland Krag, übers. v. Gabriele Haefs |
Genre | Coming of Age |
Lesealter | 14+ |
Umfang | 224 Seiten |
Edition | 1. Auflage |
Verlag | Arctis |
ISBN | 978-3-03880-083-5 |
Preis | 16,00 € |
Erscheinungsjahr | 2023 |
Cornelius führt ein unbeschwertes Teenagerleben, bis er eines Abends auf einer Party zum ersten Mal von unergründlichen Angstgefühlen überwältigt wird. Von dem Moment an ist sein Leben komplett auf den Kopf gestellt, denn es bleibt nicht bei dieser einen Panikattacke, sondern sein Alltag wird nun dauerhaft von der Angst bestimmt. Cornelius leidet unter den körperlichen Symptomen wie akuter Übelkeit und Schlaflosigkeit ebenso sehr wie unter den Folgen der zunehmenden sozialen Isolation. Denn aus Scham und Furcht vor weiteren Paniktattacken bleibt er immer öfter zuhause statt wie üblich zum Fußballtraining zu gehen oder mit seinen Freunden zu feiern. Auch in der Schule wird er von der Angst gequält und verlässt manchmal fluchtartig den Unterricht. Cornelius fühlt sich ohnmächtig angesichts des zunehmenden Kontrollverlustes und sehnt sich nach seinem vertrauten Leben zurück. So versucht er mit allen Mitteln, seine Angststörung zu verheimlichen, denn über Emotionen oder gar psychische Erkrankungen sprechen die meisten Jugendlichen in seiner Freundesclique nicht offen. Cornelius flüchtet sich immer häufiger in Ausreden und Notlügen, um triggernden Situationen wie Partys oder Ausflügen zu entgehen. Dieses Vermeidungsverhalten bleibt auch seinen Freunden Oliver, Aksel und Lea während einer gemeinsamen Hüttentour nicht verborgen. Schon bald ahnen sie, dass ihr Freund in ernsthaften Schwierigkeiten steckt und beginnen sich Sorgen zu machen. Dank der Unterstützung seines fürsorglichen Vaters erhält Cornelius therapeutische Hilfe. Erst als die Psychologin ihm die konkrete Aufgabe stellt, sich einem Menschen aus seinem Umfeld anzuvertrauen, kann Cornelius sich zumindest dazu überwinden, mit Lea, deren Bruder unter Depressionen leidet, über seine Angst zu sprechen. Nach einem Streit mit Aksel folgt Cornelius einem plötzlichen Impuls und springt im Morgengrauen von einer Klippe ins Meer. Mit diesem Akt der Befreiung stellt er sich seiner persönlichen Krisensituation und bringt endlich den Mut auf, auch Oliver und Aksel von der Angst zu erzählen. Daraufhin erfährt Cornelius viel Unterstützung von seinen Freunden und er beginnt - der Angst zum Trotz - wieder optimistischer auf sein Leben zu blicken.
Beim Essen passiert es wieder. Wir sitzen am Tisch und ich habe zu viel Fischauflauf auf dem Teller, als ich eine Vibration von den Fingerspitzen bis in die Achselhöhle spüre. Ich spucke das Essen in die Serviette und stürze hinaus zur Toilette, ich knie auf dem Boden vor der Kloschüssel und bin bereit. Aber mein Körper scheint wieder alles falsch zu verstehen, es kommt nichts hoch. Ich kann offenbar nicht kotzen, egal wie schlecht mir ist. Ich kann mich nicht auf meine eigenen Instinkte verlassen.
Ich bleibe sitzen, bis ich höre, dass Papa mich ruft. Ich stehe langsam mit unsicheren Bewegungen auf und hole Luft, aber nun kommt eine Art Schluchzen aus meinem Mund. Zum ersten Mal schaffe ich es, einen klaren Gedanken darüber zu formulieren, was ich fühle: Mir ist nicht nur schlecht. Ich habe Angst. Es gibt keinen Grund, warum mir schlecht sein sollte, trotzdem ist mir schlecht. Es gibt keinen Grund, warum ich Angst haben sollte, trotzdem habe ich Angst. Irgendetwas spielt meinem Gehirn einen Streich, und es fällt immer wieder darauf rein.
Als ich zurück ins Esszimmer komme, legt Papa sein Besteck auf den Teller.
Cornelius, ist alles in Ordnung, oder was?, fragt er.
So fragen Eltern, wenn sie Angst haben, dass nichts in Ordnung ist. Eigentlich dürfte ich mir nichts anmerken lassen, müsste die Frage mit einem Schnauben oder so was abtun, aber das geht nicht. Ich bleibe bei meinem Stuhl stehen und schaue auf die Tischplatte. Meine Hände zittern, meine Beine zittern, ich spüre, wie mir meine Klamotten an der Haut kleben. Ich stehe wie auf dem Boden festgenagelt da. Bin siebzehn Jahre alt und fast erwachsen und stehe vor Mama und Papa wie ein Kind. In mir ist es so dunkel wie unmittelbar vor Regen.
Mir is` schlecht, flüstere ich und räuspere mich. Ein wenig Angst irgendwie.
Papa steht auf. Sein Stuhl schrappt über den Boden. Er geht um den Tisch und legt mir die Hand auf die Stirn, um zu fühlen, ob ich Fieber habe, aber dann wird er still, denn ich bin ja nicht heiß.
Nicht das ist hier das Problem.
(S. 33 f.)
Dieser beeindruckende Roman greift mit der Angststörung der Hauptfigur ein im Jugendbuch selten verhandeltes und in der Gesellschaft insgesamt noch zu oft tabuisiertes Thema auf. Besonders erwähnenswert ist, dass es Alexander Kielland Krag überzeugend gelingt, realistisch und dabei spannend von dem ernsten Thema psychische Erkrankungen zu erzählen, ohne jemals in einen aufklärerischen Ratgeber-Tonfall abzudriften oder die Leser*innen am Ende deprimiert zurückzulassen. Schnell wird deutlich: Vor einer Angststörung ist niemand gefeit, es kann auch einen ganz ‚normalen‘ Jugendlichen aus privilegierten Verhältnissen treffen, der sozial bestens vernetzt ist und einfach nur seinen Alltag leben möchte. Der glaubwürdige Protagonist Cornelius ist so ein Junge von nebenan mit Freunden und Hobbys, den wir als Leser*innen auf Anhieb sympathisch finden können. Wie ist es möglich, dass sein Leben derart plötzlich aus den Fugen gerät und er sich nicht einmal seinen engsten Freunden anvertrauen kann, sondern auf Distanz geht? Die Suche nach plausiblen Erklärungen für seine Panikattacken führt ins Leere, Cornelius muss sich der Krise stellen.
Der von Gabriele Haefs aus dem Norwegischen übersetzte Roman punktet mit einer leicht zugänglichen und dabei poetischen Sprache. Der Ich-Erzähler Cornelius schildert seine Erlebnisse sehr direkt im Präsens und nutzt originelle Metaphern mit Wetterbezügen zur Veranschaulichung seiner Empfindungen und Gedanken während des Angsterlebens, z.B. „Ich gehe zur Schule mit Unwetter im Hals“ (S. 109) oder „Durch meinen Körper geht ein Erdbeben, eine totale Naturkatastrophe unter der Haut“ (S. 117). Diese dürften vor allem leseerfahrenere, literarisch affine Jugendliche (oder auch erwachsene Leser*innen) ansprechen, aber helfen durch ihre unmittelbare Bildhaftigkeit auch leseschwächeren Schüler*innen einen Zugang zu Cornelius‘ Situation zu finden. Im Zentrum des Romans steht somit keine spannende äußere Handlungsstruktur, sondern vielmehr Cornelius‘ individuelle Entwicklung im Umgang mit der Angst. Bedingt durch die Innensicht wirkt der 17-jährige Protagonist sehr nahbar und kann als Identifikationsfigur für jugendliche Leser*innen fungieren, zumal er sich im Lauf der Geschichte entwickelt und letztlich den Mut findet, sich gegenüber seiner sozialen Umwelt zu öffnen. Er verharrt nicht in der Passivität, sondern sucht sich professionelle Hilfe und wird von Familie und Freunden unterstützt, ohne als ‚Freak‘ stigmatisiert zu werden. Diese positive Entwicklung samt hoffnungsvollem Ende kann von Angststörungen Betroffenen bzw. deren Angehörigen Mut machen. Neben der Überwindung von Ängsten werden zudem typische altersgemäße Themen der Adoleszenz behandelt, die Jugendlichen vielfältige Anknüpfungspunkte an eigene Erfahrungswelten ermöglichen, wie z.B. Freundschaft, Identitätssuche, Verliebtsein, Selbstzweifel. Cornelius‘ Sorge vor sozialer Ausgrenzung werden viele Leser*innen sicher gut nachvollziehen können, auch wenn sie selbst nicht unter einer psychischen Erkrankung leiden. Persönliche Krisen bzw. Situationen, in denen man sich hilflos und ohnmächtig dem Schicksal ergeben fühlt, kennt vermutlich jede*r Rezipient*in aus eigener Erfahrung und kann daher mit Cornelius mitfühlen.
Angesichts des irreführenden Buchcovers bleibt zu hoffen, dass sich männliche Leser nicht von der (farblichen) Gestaltung abschrecken lassen, sondern ganz schnell die erste Seite aufschlagen und sich von dem besonderen Erzählton dieses Romans in den Bann ziehen lassen.
Fazit: Nur ein wenig Angst ist ein absolut empfehlenswertes Buch über eine wichtige Thematik, das aufgrund der einfachen sprachlichen Gestaltung selbst weniger geübte Leser*innen zur Lektüre motivieren kann. Diese werden auch durch kurze Kapitel und eine lineare Erzählstruktur beim Lesen unterstützt und können sich so ganz auf die Entwicklung des sympathischen Protagonisten konzentrieren.
Der Roman eignet sich als Privatlektüre für ungeübtere wie erfahrene Leser*innen gleichermaßen. Im schulischen Kontext könnten die Themen mentale Gesundheit bzw. Angststörung z.B. im Rahmen einer themenspezifischen Projektwoche aufgegriffen werden. Der Roman kann die Schüler*innen zur Reflexion über den Umgang mit psychischen Erkrankungen im eigenen sozialen Umfeld anregen und einen Beitrag zur Enttabuisierung der Thematik leisten. Außer als Klassenlektüre wäre der Einsatz des Buches auch in offenen Leseformaten oder im Kontext von Buchvorstellungen etc. denkbar.