Rezensiert von Ines Heiser
Kann ein etwas abseitiges Hobby dabei helfen, eine existenzielle Krise zu überstehen? Als sein alleinerziehender Vater nach einem Unfall in ein Spezialkrankenhaus verlegt wird, zwingen Charlies Geschwister ihn, sie auf der Reise dorthin zu begleiten. Gemeinsam mit einem dreibeinigen Hund und ihrer undurchsichtigen Babysitterin durchqueren sie in einem uralten Wohnmobil die USA, während Charlie neben allem anderen auch noch seine Zwänge bekämpfen muss – und sein einziger Halt sind Dr. Tiberius Shaws Lehren aus der Ornithologie… Eine kurzweilige Tragikomödie mit Tiefgang!
Buchtitel | Komische Vögel. 2.500 Meilen Familie, Chaos und jede Menge Chicken Nuggets |
Autor | Sally J. Pla, aus dem Englischen übers. v. Susanne Hornfeck |
Genre | Humor & Komik Coming of Age |
Lesealter | 12+ |
Umfang | 333 Seiten + Nachwort |
Verlag | Dtv (Reihe Hanser) |
ISBN | 978-3-423-64103-6 |
Preis | 16,00 € |
Erscheinungsjahr | 2023 |
Dank seiner eher unkonventionellen Familie kommt der 12-jährige Autist Charlie mit seinem Leben eigentlich gut zurecht. Doch dann hat sein alleinerziehender Vater als Kriegsreporter einen Arbeitsunfall. Als er in ein entferntes Spezialkrankenhaus verlegt wird, macht sich Charlies 15-jährige Schwester Davis auf eigene Faust dorthin auf den Weg und nimmt ihn und seine jüngeren Zwillingsbrüder mit. Die Reise in einem altertümlichen Wohnmobil ist für Charlie eine riesige Herausforderung: Ständig muss er sich auf neue Situationen einstellen, in denen für seine Zwänge und Routinen sehr wenig Platz ist – und dabei sind Ein-Sterne-Toiletten noch das kleinste Problem. Charlie rettet sich in die Ornithologie, ein Hobby, welches er auch gemeinsam mit seinem Vater betrieben hat. In der Hoffnung, dass dies auf magische Weise seinem Vater beim Gesundwerden helfen könnte, bemüht er sich darum, alle einzigartigen „Irgendwann-Vögel“ von einer Liste zu finden, die sie früher einmal gemeinsam erstellt haben. Wider Erwarten gelingt ihm nicht nur das, sondern er kann auch noch das Rätsel um die geheimnisvolle Babysitterin Ludmilla lösen. Als die Familie auf Umwegen schließlich das Krankenhaus in Virginia erreicht, ist Charlies Vater tatsächlich nach einer gelungenen Operation auf dem Weg der Genesung und Charlie erhält unerwartet einen Brief des von ihm bewunderten Vogel-Experten Tiberius Shaw, der ihn darin bestärkt, seine Vogelstudien fortzuführen.
Eine Leseprobe kann hier eingesehen werden.
Ein wesentliches Merkmal von Komische Vögel ist der originelle und leichte Erzählton, der Tempo und Komik in die nicht ausschließlich komische Handlung bringt. Dies beginnt bei den liebenswerten Nebenfiguren, die als solche alle komische Vöge sind – so etwa Gram, die fürsorgliche aber ständig kurios fluchende Großmutter oder die hyperaktiven jüngeren Zwillingsbrüder, die allein durch ihre Anwesenheit zuverlässig Chaos auslösen. Die Handlungsentwicklung ist häufig dadurch geprägt, dass Charlies Befürchtungen sich nicht allein erfüllen, sondern dass dies in komisch übersteigerter Form geschieht und die Geschichte die vielleicht nicht schlimmstmögliche aber chaosträchtigste Wendung nimmt. So kann etwa die eigentlich eingeplante Freundin der Großmutter die Geschwister nicht beaufsichtigen, nachdem sie sich beim Sturz über ein Skateboard ein Bein gebrochen hat; der Versuch, unter Davis´ Aufsicht die Zeit zuhause allein zu verbringen, scheitert grandios und daraufhin engagiert Gram als letzte Möglichkeit Ludmilla als Aufsichtsperson – eine junge Frau, die nach dem Unfall des Vaters plötzlich an seinem Krankenbett auftaucht und von den Geschwistern als unangenehm und aufdringlich eingeschätzt wird. Die in schneller Folge auftretenden kuriosen Überraschungen machen einen deutlichen Leseanreiz aus und halten das Leseinteresse hoch: Man wünscht sich, dass sich das ernste Anliegen der Geschwister, den kranken Vater wiederzusehen, erfüllt und dass die Spezialklinik in der Lage ist, zu seiner Genesung beizutragen – gleichzeitig wird man durch die komischen Hindernisse bestens unterhalten und kann das Hinauszögern der glücklichen Lösung in diesem Sinne auch genießen.
Mindestens genauso besticht Plas Roman durch den sympathisch gezeichneten Erzähler Charlie. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die ausgewogene und inklusive Darstellung in Bezug auf seine neurologische Entwicklungsstörung: Charlie kommuniziert als Erzählinstanz seinen Autismus jederzeit offen und erlebt auch damit zusammenhängende Einschränkungen bewusst und kritisch; er verfügt in vielen Situationen über passende Bewältigungsstrategien, die er gewitzt einsetzt. Gleichzeitig teilt er viele Eigenschaften mit neurotypischen Gleichaltrigen: Er liebt Tiere und kann sich in sein spezielles Hobby, die Ornithologie, vertiefen und das Benehmen seiner Geschwister ärgert oder befremdet ihn oft. Genauso wie seine Geschwister hat auch Charlie Anteil daran, die durch den Unfall des Vaters verursachte Krise zu lösen und er behebt häufig Schwierigkeiten, die von Davis oder den Zwillingen erst verursacht wurden: So kümmert er sich etwa gewissenhaft um den dreibeinigen Hund, den seine Brüder spontan adoptieren oder er alarmiert die Großmutter, als sich während ihrer Abwesenheit Davis` älterer Freund im Haus der Familie einnistet. In der Gesamtschau ist Charlies Behinderung also durchaus ein immer wieder auftauchendes Thema, allerdings ist sie nur eine von vielen Eigenschaften, die ihn als komplexe Figur ausmachen und Charlie ist neben seinen Geschwistern gleichberechtigter Held der Geschichte, die sich als Roadmovie hauptsächlich um die von verschiedenen Schwierigkeiten begleitete Reise zum Vater entspinnt. Wenn Charlie sich daher über ein Lied über einzigartige Schneeflocken mokiert, das er während eines Feriencamps singen musste, „Wenn ihr mich fragt, sind Schneeflocken nichts Einzigartiges. Sie schmelzen. Sie sind nichts als Wasser“ (S. 32), dann trifft dies auf seine Darstellung im Roman in besonderer Weise zu: Es wird gezeigt, dass er seine behinderungsbedingten Eigenarten hat, sich gleichzeitig im Kern allerdings nicht maßgeblich von seinen Geschwistern oder anderen Heranwachsenden unterscheidet.
Der Roman ist eine klare Lektüreempfehlung für alle, die sich für Ornithologie interessieren, da Bezugnahmen auf das Hobby des ‚birdwatchings’ ihn durchziehen. Zusätzlich werden die Kapitel von Exzerpten aus den fiktiven Werken des ebenso fiktiven Vogel-Experten Tiberius Shaw begleitet, die Parallelen zwischen dem Verhalten von Menschen und Vögeln diskutieren. Die Kombination aus erzählenden Elementen und Sachbuch-Fiktion spricht sicherlich auch Lesende an, die ansonsten eher nichtfiktionale Leseangebote bevorzugen. In Bibliotheken oder Schulbüchereien kann es entsprechend seinen Platz sowohl im Bereich von Jugendromanen finden als auch an einschlägig Interessierte empfohlen werden, die sonst gern Sachbücher über Vögel lesen.
Komische Vögel ist ebenso gut geeignet, um eine Brücke zwischen Lesen und Schreiben zu schlagen: Charlie betreibt extensives „journaling“, er führt immer ein Notizbuch bei sich, in dem er Vogelbeobachtungen einträgt und Vogelzeichnungen anlegt. Seiner Beschreibung nach handelt es sich dabei oft um Text-Bild-Kombinationen, in denen auch Textelemente ästhetisch ansprechend gestaltet werden. Der Roman kann insofern eine Anleitung sein, um mit jungen Lesenden – etwa in Bibliotheken oder Buchclubs, aber auch in schulischen Projekten – eine ähnliche Praxis zu etablieren. Günstig ist hier besonders, dass die Grundlage des Journals ein Sachthema ist. Für Jugendliche, die sich selbst als nicht besonders kreativ einschätzen, ist dies ein niederschwelliges Angebot, weil Inhalte zunächst schlicht recherchiert werden können und die kreative Herausforderung hauptsächlich auf der Ebene der Auswahl und der Präsentation einzuordnen ist.