Buchcover Der Sohn des Ursars, Xavier-Laurent Petit

Ciprians Familie gehört zu den Roma, zieht umher und tritt mit Bärenkämpfen in Dörfern auf. Ciprian...

Rezensiert von Frederic Reese und Dr. Eva Maus

In einem Stadtpark entdeckt Ciprian sein Talent für das Schachspielen. Doch so geordnet und planbar dieses Spiel ist, umso chaotischer und unberechenbarer ist sein Leben als illegaler Einwanderer in den Slums von Paris, wo seine Familie und er sich als Kleinkriminelle über Wasser halten. Doch kann das Schachspielen nicht nur eine kurze Flucht aus dem Alltag, sondern ein Ausweg sein? Ein einfühlsamer Jugendroman, der zum Nachdenken sowie Mitfiebern anregt.

BuchtitelDer Sohn des Ursars
AutorXavier-Laurent Petit
GenreGegenwart & Zeitgeschichte
Lesealter12+
Umfang240 Seiten
Edition1. Auflage
VerlagKnesebeck
ISBN9783957285386
Preis15,00 €
Erscheinungsjahr2022

Ciprians Familie gehört zu den Roma, zieht umher und tritt mit Bärenkämpfen in Dörfern auf. Ciprian und seine Geschwister gehen nicht zur Schule, kennen keine feste Bleibe und sind gewohnt, dass die Dorfbewohner sie fortjagen. Als das Familienauto einen Motorschaden hat und die Dorfbewohner*innen bedrohlich werden, nimmt die Familie das Angebot von vermeintlich freundlichen Männern an, sie nach Frankreich zu bringen. Doch das angekündigte Paradies entpuppt sich als Falle: Die Oma und der Bär müssen zurückbleiben, in der Banlieue sind die Lebensumstände schwierig und die Schleuser zwingen alle Familienmitglieder ihre Schulden mit Betteln und Stehlen abzuarbeiten, während sich aus fadenscheinigen Gründen immer neue Schulden anhäufen. 

Als Ciprian im Park Schachspieler*innen entdeckt und heimlich beobachtet, kann er sich der Faszination des Spieles nicht entziehen. Obwohl es für ihn zunächst Ärger bedeutet, findet er über das Spiel Unterstützer*innen, die seine Intelligenz erkennen, ihm einen Schulbesuch ermöglichen und sein Schach-Talent fördern. Während Ciprians älterer Bruder abgeschoben, seine Mutter verrückt und sein Vater verhaftet wird, gelingt es Ciprian mit Hilfe seiner Unterstützer*innen in die Juniornationalmannschaft im Schach aufgenommen zu werden, und für seine Familie eine französische Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.

Eine Leseprobe kann hier eingesehen werden.

Der Sohn des Ursars ist aus gleich mehreren Gründen ein für Jugendliche empfehlenswertes Buch:

Der Titel bezaubert durch die steinige aber gleichzeitig hoffnungsvolle Geschichte von Ciprian, der man gespannt folgt. Immer neue Herausforderungen warten auf den Protagonisten und seine Familie und die Spannung, die sich früh im Buch aufbaut, wird kontinuierlich aufrecht erhalten und gesteigert, so dass man es bald nicht mehr aus den Händen legen möchte. 

Zusätzlich begeistert die Gestaltung der Erzählperspektive: Cirprian, aus dessen Perspektive konsequent erzählt wird, schließt man schnell ins Herz und man lässt sich bereitwillig auf seine schwierige Lebenssituation ein. Versteht er anfangs Worte der noch fremden Sprache falsch, werden diese lautmalerisch dargestellt. Oft können Lesenden bereits erahnen, was Ciprian erst mit der Zeit versteht – ähnlich wie sich Cirprian die französische Lebensweise erst erschließen muss. Darüber hinaus ist Der Sohn des Ursars sprachlich relativ einfach und damit auch für eher ungeübte Lesende ab 12 Jahren zu bewältigen.   

Ohne, dass ein pädagogischer Zeigefinger spürbar wäre, wird auch das – durchaus oft unerwünschte und problematische – Verhalten von Ciprian und seiner Familie mittels des konsequenten Erzählens aus Ciprians Perspektive nachvollziehbar. Ohne diese zu verharmlosen oder zu romantisieren – es geht der Familie schlecht, sie ist kriminell und lügt – kann die Lektüre so Empathie und Verständnis für ihre Situation hervorrufen. Insofern ist auch das Thema gesellschaftlich relevant. Dem Autoren gelingt dabei eine gute Balance zwischen Verständnis für schwieriges Verhalten und der Vermittlung moralischer Werte.

Fazit: Ein Jugendroman mit sympathischen Protagonisten, abgesehen von einigen nicht-deutschen Wörtern recht leicht zu lesen und mit einem gesellschaftlich relevanten Thema, das beim Lesen in den Fokus genommen, aber auch angesichts der spannenden Handlung vergessen werden kann.  

Sowohl für die Leseförderung im privaten, als auch institutionellen und schulischen Bereich ist Der Sohn des Ursars gut geeignet. Die Erzählung ermöglicht den Vollzug von Perspektivwechseln, bietet Spannung und Anknüpfungspunkte an aktuelle Nachrichten. Im Unterricht – als gemeinsame Unterrichtslektüre oder als Teil eines breiteren Lektüreangebots (z. B. von Vielleseverfahren) – ist eine eingehende Beschäftigung mit vielen Themen (Migration, Roma, Lebensumstände in den Banlieues, aber auch Gründe für Kleinkriminalität, psychische Gesundheit etc.) gut umsetzbar. Die Lektüre kann zudem mit einer Einführung in das Schachspiel verbunden werden. Von Vorteil ist es, dass die Lektüre nicht zwingend durch Erwachsene begleitet werden muss und als spannendes Buch auch für sich stehen kann. 


Dass talentierte Schachspieler*innen ihre Lebensumstände durch das Spiel verbessern können, ist ein Motiv, das schon häufiger mediale Verarbeitung gefunden hat. In Anlehnung an die Lektüre von Der Sohn des Ursars können daher auch Filme und Serien als Vergleichstext genutzt werden. Dafür eignet sich beispielsweise Das Wunder von Marseille ein Film von 2019 mit Gérard Depardieu, der sich mit der Integration eines Jungen aus Bangladesch über das Schachspielen beschäftigt – eine wahre Geschichte. Auch ein Bezug zu Stefan Zweigs Schachnovelle lässt sich herstellen.


Wem Der Sohn des Ursars gefallen hat, kann ein noch leichter lesbares Buch, das die Frage nach ‚illegalen‘ Migrant*innen altersgerecht – etwas anders - aufgreift und ähnlich spannend ist, in dem Titel Roadtrip mit Lasergirl und Beyoncé (Tjibbe Veldkamp, Carlsen 2020) finden. Andere Titel mit ähnlichem Thema sind zum Beispiel Vor uns das Meer von Alan Gratz und Allein auf dem Meer von Chris Vick. Wer mehr Schilderung von realistischen, herausfordernden Lebensumständen lesen möchte, ist auch mit Titeln wie Verloren in Eis und Schnee (Davide Morosinotto, Thienemann 2018) oder Ghost – Jede Menge Leben (Jason Reynolds, dtv 2021) gut bedient.