Rezensiert von Dominik Achtermeier
Ein Schulbesuch der Galeristin Marika Loft stellt das Leben von Cole Miller auf den Kopf. Sein Gemälde ist ein reines Zufallsprodukt, doch Marika sieht mehr darin, verkauft es für 1.000 Pfund und erklärt Cole zum Wunderkind. Unter dem öffentlichen Druck, bald ein neues Gemälde fertigzustellen, misslingt jeder weitere Versuch, Kunst zu erschaffen, und verzweifelt greift Cole zu einer folgenschweren List. Autorin Lisa Thompson schafft es, junge Leser*innen so sehr in eine Geschichte zu verstricken, dass sie Coles Herzklopfen geradezu hören können.
Buchtitel | Der Tag, an dem ich versehentlich die Welt belog |
Autor | Lisa Thompson |
Genre | Humor & Komik Anti-Helden & Schelme |
Lesealter | 10+ |
Umfang | 288 Seiten |
Edition | 1. Auflage |
Verlag | Atrium (Zürich) |
ISBN | 978-3-85535-670-6 |
Preis | 16,00 € |
Erscheinungsjahr | 2022 |
Die Eltern des Jungen Cole (11) und seiner dreijährigen Schwester Mable müssen sparsam sein: Ihr Vater ist arbeitslos und ‚nur‘ für seine beiden Kinder da und der Mutter droht aufgrund der anstehenden Schließung des örtlichen Museums ebenso die Arbeitslosigkeit. Trotz sozialer Unterschiede ist Cole mit dem 12-jährigen Mason, der in einer Stadtvilla lebt, befreundet. Sie gehen in dieselbe Klasse. An einem Tag passiert das Unerwartete: Im Kunstunterricht von Mrs. Frampton übernimmt Marika Loft, die prominente Kunsthändlerin und ehemalige Schülerin der Crowther High, den Unterricht und ermuntert Cole und seine Mitschüler*innen Kunst zu erschaffen. Als die Aufgabe beendet ist erklärt sie Coles Kunstwerk ‚Ein Himmel in Blau‘ als phänomenal: „Das bist du, stimmt’s? Das Blau bist du. Du hältst dein Leben … deine Welt in den Händen. […] Es erzählt mir eine Geschichte“ (S. 51). Marika nimmt Coles Kunstwerk mit, verkauft es und lenkt das mediale Interesse auf Cole. Damit hat niemand gerechnet, vor allem nicht Cole selbst, der auf einem blauen Hintergrund bloß zwei weiße, sich kreuzende Linien gemalt und den Abdruck seiner Hände eher aus Versehen auf dem Bild hinterlassen hat. Mehr und mehr entpuppt sich Coles Kunstwerk zur lukrativen Finanzquelle: Coles Eltern können endlich die defekte Heizung reparieren lassen und für Marikas Geschäft ist Cole ein erstklassiges Aushängeschild. Zum Dank stellt sie dem Schulleiter Mr. Taylor die Renovierung des Kunstraums in Aussicht. Fortan nennen die gehässigen Mitschüler ‚Poor Kid Cole‘ nur noch ‚Picasso‘.
Sein nächstes Bild muss zeitnah fertig werden, da es auf einer Auktion in der kommenden Woche versteigert werden soll. Doch Cole fehlen die Ideen und seine Vorschläge wie ‚Ein Himmel in Grau‘ oder ein Stillleben werden von Loft und ihrem Assistenten Duncan abgelehnt. In seiner Verzweiflung sendet Cole Duncan kurz vor der Versteigerung ein Foto von einem Bild seiner dreijährigen Schwester Mable und löst damit eine Kettenreaktion aus. Ein Bieter ersteigert das Bild für 100.000 Pfund. Doch das Geheimnis um die wirkliche Künstlerin bleibt nicht lange verborgen, denn Mable verplappert sich vor laufender Kamera, als ein Fernsehteam Cole zuhause besucht.
In einem zweiten Erzählstrang wird das Rätsel rund um ein 100 Jahre altes Gemälde im Heimatmuseum, Ein Enigma in Öl, entwickelt. Wer das Rätsel löst, soll zu einem Schatz geführt werden. Schon zu Beginn der Erzählung sind Cole und Mason von der Idee begeistert, diesen Schatz zu finden, umso mehr noch nach dem ganzen Schlamassel, in den sich Cole manövriert hat. Vielleicht können Cole und Mason wirklich das Gemälde, das zu Hinweisen im gesamten Museum führt, entschlüsseln und dadurch die Museumsschließung verhindern. Aber plötzlich sind nicht nur Exponate, sondern auch das Gemälde von Basil Warrington-Jones verschwunden und jede Sekunde zählt.
Eine Leseprobe kann hier eingesehen werden.
Zwei Busse voller Siebtklässler*innen sind zu Beginn des Romans auf einem Klassenausflug, doch Cole Miller und Mason Ferguson müssen die Schule für den Besuch von Marika Loft richten. Bereits der Erzählanfang lässt vermuten, dass der Hausmeisterdienst, den der Schulleiter ihnen als Beschäftigungsmaßnahme am Wandertag aufbrummt, nicht das einzige Abenteuer der beiden Freunde bleiben wird. Sehr leserfreundlich und klischeefrei vermittelt Lisa Thompson, wie unterschiedlich und doch ähnlich Cole, der Protagonist der Geschichte, und Mason sind. Trotz sozialer Unterschiede haben sie den gleichen Humor und gemeinsame Interessen. Besonders fasziniert sie das Rätsel rund um das sagenumwobene Gemälde von Basil Warrington-Jones, das im Stadtmuseum hängt und „eine Art Schatzsuche enthält“ (S. 89), die seit knapp 100 Jahren niemand imstande war zu lösen. In der Rahmenhandlung der Erzählung führen die von Cole und Mason anfänglich entschlüsselten Hinweise zu Exponaten in der gesamten Sammlung des Museums. Doch brauchen sie Hilfe, die sie sich von der Cello spielenden Einzelgängerin Isla erhoffen. „Normalerweise redeten wir nicht besonders viel mit ihr. Niemand tat das. Sie ging zwar in unsere Klasse, aber man nahm sie nie wirklich wahr […].“ (S. 88) „Du bist so ziemlich der cleverste Mensch, den wir kennen“ (S. 90). Das Geschlechterverhältnis der Haupt- und Nebenfiguren ist ausgewogen und ermöglicht Lesenden ein breit angelegtes Identifikationspotenzial. Unter den Erwachsenenfiguren sticht die extrovertierte Marika Loft hervor, die Cole zwar für sein Ausnahmetalent lobt, ihm dennoch das Messer auf die Brust setzt. Sie stellt ihm eine große Box voller Künstlerbedarf zur Verfügung, damit er möglichst schnell liefern kann. Cole muss feststellen, dass ihm das erwartete Meisterwerk nicht gelingt, schon gar nicht unter dem Erwartungs- und Zeitdruck. Aber auch die Eltern freunden sich nach kurzer Irritation mit dem Gedanken an, dass Cole mit seinem Talent und den Verkaufserlösen die Lebensverhältnisse der Familie verbessern kann: Die Heizung könnte repariert und Mahnungen bezahlt werden. In heller Euphorie kleiden sich alle für die anstehende Vernissage neu ein und Cole darf sich die teuren Markenschuhe kaufen, mit denen er in der Schule plötzlich bei Niall und Co ankommt.
Neben der für junge Leser und Leserinnen durch die abenteuerliche Suche recht spannende Rahmenhandlung verstrickt der Roman seine Leser*innen schon nach dem ersten von 38 Kapiteln, die durchschnittlich acht Seiten zählen, in die Geschichte rund um den Aufstieg und Fall von Cole, der eine geeignete Identifikation für Jungen wie Mädchen ist. Was ihm passiert, ist spannend, erfreulich und bedrückend zugleich. Der Alltag der Außenseiter- und Antiheldenfigur ‚Poor Cole Kid‘ Miller wird von einem dummen Zufall auf den Kopf gestellt: Warum muss Marika Loft gerade in seinem Bild wahre Kunst entdecken? Weshalb ernennt sie ihn, der mit Kunst bislang nur wenig anfangen konnte, zum Wunderkind? Trotz einer übertriebenen Zuspitzung werden vielen heranwachsenden Leser*innen vergleichbare Situationen und die damit verbundenen Gefühle von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt bekannt vorkommen: Man trifft eine falsche Entscheidung und muss mit den Konsequenzen leben. Ohne belehrend zu sein, findet Lisa Thompson genau den richtigen Ton.
Sprachlich sehr angemessen finden sich kurze Kapitel, die trotz einer Romanlänge von über 280 Seiten für Jungen wie Mädchen, die bereits erste Leseerfahrungen gesammelt haben, sehr verständlich geschrieben sind. Dies liegt besonders an der altersgerechten Übersetzung von Silke Jellinghaus, die sich durch wenig komplexe Satzkonstruktionen auszeichnet und das Leseverstehen unterstützt. Auf Fremdwörter wird weitestgehend verzichtet. In Kontexten zur Kunstwelt oder der Arbeit des Museums werden spezifische Eigennamen und Begriffe wie ‚Vernissage‘ oder ‚Exponat‘ verständlich eingeführt. Abgesehen vom leuchtenden Cover, welches die zentrale Textstelle – die Enthüllung des zur Ersteigerung stehenden Gemäldes - zeigt, wird auf Illustrationen im Roman verzichtet. Auflockernd wirken Zeitungsberichte oder Nachrichtenverläufe, die sich typografisch vom Erzähltext abheben.
Die Britin Lisa Thompson, die vor ihrer Autorinnenkarriere – ihr Debütroman The Goldfishboy wurde unter anderem für die Carnegie Medal und den Waterstones Children’s Book Prize nominiert – als Journalistin beim Radio arbeitete, entfaltet in Am Tag, an dem ich versehentlich die ganze Welt belog parabelgleich einen Mikrokosmos rund um Cole Miller. Die dramatisch aufgebaute Erzählung der Heldenreise Coles motiviert Heranwachsende, die diese literarische Welt betreten, nicht nur Coles, sondern auch die Handlungen anderer Figuren moralisch zu beurteilen, sich als Leser*in auf Gedankenexperimente à la ‚Was wäre, wenn…‘ einzulassen und das eigene Handeln zu hinterfragen. Ferner ermöglicht Lisa Thompson einen – auf diese literarisch vermittelnde Weise einzigartigen – Zugang zur Kunst. Was ist eigentlich Kunst? Ein von langer Hand geplanter Prozess, der sich von der Recherche über die Vorbereitungen wie Materialbeschaffung und Vorskizzen bis zur eigentlichen Produktion eines Kunstwerks zieht? Oder doch eher etwas Zufälliges, aus dem Augenblick heraus Entstehendes, der Moment, in dem der bzw. die Künstler*in von der Muse geküsst wird? Und wer entscheidet am Ende darüber, ob eine geschaffene Plastik, ein Druck oder ein Gemälde zur Kunst erklärt wird?
Aus didaktischer Sicht lässt sich der Roman vielfältig einsetzen. Er ist sowohl als unterhaltsame Freizeitlektüre zu empfehlen als auch für didaktisch angeleitete Leseförderformate geeignet. Hierzu zählen Vielleseverfahren ebenso wie schulische und außerschulische Workshops, die sich thematisch an den Roman anschließen. Ausgewählte Textabschnitte, die gemeinsam gelesen werden, können Ausgangspunkt eines literarischen Gesprächs sein, welches um handlungs- und produktionsorientierte Angebote ergänzt wird. Es bieten sich kunstpädagogische Übungen an, die Heranwachsende zum kreativen Gestalten mit verschiedensten Materialien anregen. Hierzu kann auch der Kunstunterricht, der im Roman ein entscheidender Handlungsort ist, einladen. Darüber hinaus können Heranwachsende motiviert werden, selbst ein Gemälde zu erschaffen, in dem sie wie Basil Warrington-Jones ein Rätsel verstecken, welches von Gleichaltrigen später entschlüsselt werden kann. Anregungen können Schüler*innen am außerschulischen Lernort eines naturkundlichen Museums bekommen. Gemeinsam mit der Museumspädagogik können Spurensuchen zu Ausstellungsthemen oder spezifischen Exponaten entwickelt und künstlerisch oder multimedial umgesetzt werden.
Nur wenige Heranwachsende werden in ihrem Leben bislang eine Auktion besucht haben, wodurch der Besuch eines Auktionshauses und nach Möglichkeit auch einer echten Auktion als Lernorte mit Sicherheit für bleibende Erinnerungen sorgen wird.