Buchcover Gulraiz Sharif: Ey hör mal!

Der 15-jährige Mahmoud lebt mit seinen aus Pakistan eingewanderten Eltern und seinem kleinen Bruder...

Rezensiert von Ines Heiser

Sommerferien – das heißt chillen, jedenfalls, wenn man sich wie Mahmoud und seine Osloer Bros keinen Urlaub leisten kann. Doch dann kommt sein Onkel Ji aus Pakistan zu Besuch und Mahmoud muss nicht nur den Fremdenführer machen und die merkwürdigen Marotten der norwegischen Norweger*innen erklären, sondern sich auch noch darum kümmern, dass sein kleiner Bruder Ali so gar kein Gangster sein möchte, sondern lieber My little Pony schaut und sich eine Barbie wünscht…

Eine humorvolle Coming of Age-Geschichte, die Transsexualität aus migrantischer Perspektive erzählt.

BuchtitelEy hör mal!
AutorGulraiz Sharif
GenreHumor & Komik
Coming of Age
Lesealter14+
Umfang206 Seiten
Edition1. Auflage
VerlagArctis
ISBN978-3-03880-054-5
Preis15,00 €
Erscheinungsjahr2022

Der 15-jährige Mahmoud lebt mit seinen aus Pakistan eingewanderten Eltern und seinem kleinen Bruder Ali in Oslo. Statt sich wie befürchtet in den Sommerferien zu langweilen, wird er von seinen Eltern dafür eingespannt, seinem Onkel Ji, der aus Pakistan zu Besuch ist, die Stadt zu zeigen. Als Fremdenführer entdeckt Mahmoud selbst neue Seiten an seiner norwegischen Heimat, auf die er stolz ist, obwohl er sie durchgehend bissig-schnodderig kommentiert. Onkel Ji ist begeistert und entwickelt verschiedenste Pläne, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Vor dem Hintergrund dieser harmlosen Ferienunterhaltung zeichnet sich aber bald ein sehr viel ernsteres Thema ab: Mahmoud bemerkt, dass sein kleiner Bruder unglücklich ist und nicht mit den Erwartungen zurecht kommt, die an ihn als Sohn pakistanischer Eltern gestellt werden. Nach und nach erkennt Mahmoud die Ursachen und findet einen Begriff dafür: Ali ist Transgender und möchte als Mädchen leben. Damit sieht Mahmoud sich vor die Aufgabe gestellt, Ali/Alia zu unterstützen und zu beschützen. Es gelingt ihm relativ schnell, seine Mutter davon zu überzeugen, dass sie die neuentdeckte Identität ihres zweiten Kindes akzeptiert. Mit ihrer Hilfe kann er schließlich auch den zunächst wenig begeisterten Vater dazu bringen, sich mit der Situation zu arrangieren.

Eine Leseprobe kann hier eingesehen werden.

Darf man sich über rechtspopulistische Strömungen und Fremdenfeindlichkeit lustig machen? Folgt man Mahmoud, dem Protagonisten aus Gulraiz Sharifs hochgelobtem Debüt Ey hör mal!, dann muss man das sogar. Von sich aus wenig ambitioniert tröstet er sich mit Schnodderigkeit über das Bewusstsein hinweg, im Leben oft weniger Chancen als andere zu bekommen. So verzichtet er etwa darauf, sich einen Ferienjob zu suchen, weil er befürchtet, aufgrund seines Namens ohnehin nicht zum Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden: „Wenn Astrid oder Sigrid oder irgend ´ne andre Tussi im Betrieb ´nen Blick auf meine Bewerbung wirft, wird sie die zu ´nem Ball zusammenknüllen und mit spitzen Fingern in den Müll werfen […]. Mahmoud Mahroff, echt jetzt? Ischwör, ich hab schon öfters überlegt, meinen Namen zu ändern. Ich würd mich lieber Jørn oder Bjørn nennen und sagen, dass ich adoptiert bin, aus Indien, Bangladesch oder Iran“ (S.23). Gleichzeitig ist er sich dessen bewusst, dass seine hart arbeitenden eingewanderten Eltern große Erwartungen in ihn setzen und er, um diese nicht zu enttäuschen, eigentlich AMIR – „also Arzt, Manager, Ingenieur oder Rechtsanwalt“ (S.38) – werden muss: Die Liste der Dinge, für die sein Vater nicht nach Norwegen gekommen ist, ist lang und einen faulen Sohn zu haben steht ziemlich weit oben. Obwohl Mahmoud damit kokettiert, ein „echtes Ghettokid“ zu sein, weiß er die Anstrengungen seiner Eltern durchaus zu schätzen. Er liebt sie und seinen kleinen Bruder bzw. seine kleine Schwester sehr und er bemüht sich daher redlich, den Herausforderungen, die auf ihn zukommen, gerecht zu werden – egal, ob es darum geht, die Familienehre zu retten, indem er seinem Onkel einen erlebnisreichen Norwegenaufenthalt organisiert oder ob ein Weg für Ali/Alia gefunden werden muss, damit diese*r wieder lachen kann. Bezeichnend ist dabei die selbstbewusste Art, mit der Mahmoud zwischen den verschiedenen Welten navigiert, in denen er sich bewegt und die er jeweils schätzt, obwohl er auch ihre Schattenseiten kennt. Als Einwanderer der zweiten Generation macht er sich häufig über die seiner Meinung nach zu leisen, zu ordentlichen und zu peniblen „norwegischen Norweger*innen“ lustig, die jedes Mal schockiert sind, wenn etwas „nicht gemütlich“ ist. Mahmoud ist gleichzeitig durchaus bewusst, dass einige der norwegischen Norweger*innen lieber keine Migrant*innen im Land hätten, er lässt sich davon allerdings wenig beeindrucken, sondern plant großsprecherisch fest damit, ihnen in wenigen Jahren statt ihrer traditionellen Marius-Muster-Pullover selbst kreierte Mahmoud-Pullis zu verkaufen „mit Currymuster und so gestricktem weißem Knoblauch überall drauf“, mit roten Zwiebeln, grünen Chilis und roten Chiliflöckchen, die dann weggehen werden „wie warmes Naan“ (S. 17).

Genauso spitzzüngig-kritisch sieht er allerdings die migrantischen Communities und gleichzeitig liebt er diese genauso wie die norwegischen Norweger*innen in bestimmten Situationen für bestimmte Eigenschaften. Trotz aller oft genug nur vorgeschobenen Rotzigkeit bringt Mahmoud seinen Mitmenschen insofern eine entspannte Toleranz entgegen, ohne sie seinen Vorstellungen anpassen zu wollen – möglicherweise gerade deswegen, weil er aus nächster Anschauung ganz verschiedene Lebensweisen als funktional und berechtigt erlebt. Diese Einstellung erstreckt sich ab der zweiten Hälfte des Romans ganz selbstverständlich auch auf Ali/Alia. Auf deren Mitteilung: „Im Kopf bin ich ein Mädchen“ (S.100) reagiert Mahmoud zwar leicht irritiert, aber mit einer Geste großer brüderlicher Zuneigung: „Ich bin stolz auf dich, ich hab dich lieb, Bruder. Und zwar voll so, du hast ja keine Ahnung, wie lieb ich dich hab. Du bist mein Ein und Alles, echt!“ (S.101). Um Ali/Alia vor negativen Reaktionen anderer zu schützen, bemüht sich Mahmoud zuerst darum, die neuentdeckte Identität zu verstecken. Bald erkennt er jedoch, dass es gerade jetzt darauf ankommt, „mit geradem Rücken zu stehen“, wozu ihn sein Vater immer aufgefordert hat: Er hilft Alia, sich vor den Eltern zu outen und am Ende ist sogar der zunächst wenig von der neuen Situation begeisterte Vater dazu bereit, mit Alia Sommerkleider kaufen zu gehen. 

Gulraiz Sharifs Romandebüt stieß auf ein begeistertes Echo der Kritik und erhielt den „Debütantenpreis für Kinder- und Jugendliteratur“ des norwegischen Kultusministeriums. Dies mit Recht: Sharif entwirft einen durch und durch sympathischen Protagonisten, dem er im Interview selbst sehr passend ein „heart of gold“ attestiert und er stellt authentisch und klischeefrei die vielgestaltige urbane Gesellschaft Oslos dar. Dabei mögen einige Figuren wie die Mutter leicht überspitzt gezeichnet sein, dies ist aber wohl nicht zuletzt auf die Sprechhaltung des Protagonisten zurückzuführen, der eine große Schwadronierfreudigkeit an den Tag legt und dabei immer wieder Motive aus Rap und Populärkultur aufgreift. Diese Erzähltechnik sorgt dafür, dass die Lektüre nicht ganz anspruchslos ist – man muss bereit sein, sich auf den individuellen Mahmoud-Sprech einzulassen, der in bester Standup-Comedy-Manier Versatzstücke aus verschiedenen Sprachen, Dialogfetzen, lautmalerische Passagen und lustige Anekdoten aneinanderreiht. Belohnt wird man dafür mit einem differenzierten Blick auf die Lebensrealitäten migrantischer Jugendlicher, die vor der Aufgabe stehen, ganz verschiedene Rollen gleichzeitig und nebeneinander einnehmen zu müssen, abhängig davon, in welchem der verschiedenen Kontexte, zu denen sie gehören, sie sich gerade bewegen.

Aufgrund der formalen Voraussetzungen eignet sich Sharifs Roman besonders für Settings einer begleiteten Lektüre, etwa für den Literaturunterricht oder für Leseclubs bzw. Lesepatenschaften. Im Austausch mit einem kompetenten Gegenüber können etwa Irritationen über den nicht alltäglichen Erzählton thematisiert und bewältigt werden und es ist in diesem Rahmen auch leichter möglich, fehlende Informationen zu norwegischer Kultur und Politik zu recherchieren.

Thematisch spricht der Roman sicherlich insbesondere Jugendliche an, die selbst in einem multikulturellen Umfeld aufwachsen oder/und die ggf. selbst – als Betroffene, Verwandte oder Freund*innen – einen Bezug zum Thema Transgender haben. Unter dieser Perspektive kann der Roman auch Grundlage für Projekte im Bereich der interkulturellen bzw. der queeren Bildung sein. Daneben bietet er sich beispielhaft an, um das Innovationspotenzial migrantischer Mehrsprachigkeit zu untersuchen und sich mit Lernenden über Form und Funktion migrantisch geprägter Sprachvarietäten („Kiezdeutsch“) auszutauschen. Lesefördernde Effekte kommen hier dann zustande, wenn Jugendliche am Beispiel von Sharifs Ey hör mal! erfahren, dass das Medium Buch nicht ausschließlich bildungssprachlich formulierten Inhalten vorbehalten sein muss, sondern genauso geeignet ist, anderen Milieus und Gruppen eine Stimme zu geben. Hier sind etwa Vergleiche mit Felix Lobrechts Sonne und Beton möglich.