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Eine Liebesgeschichte – zumal eines homosexuellen Paares – als Lektüre für 12jährige Jungen? Die Graphic Novel Heartstopper mag thematisch eher ungewöhnlich für einen Top Titel in der Altersgruppe 12+ sein und tatsächlich kann einigen Lesenden eine Identifikation mit den Hauptfiguren schwerfallen. Zudem ist Liebe als Thema für Jungen oft ein absolutes No-Go. 

Trotzdem kann der Titel (auch) für Jungen in dem Alter eine lohnende und überraschend attraktive Lektüre sein, denn die fast 300 Seiten starke Graphic Novel ist trotz ihres größeren Seitenumfangs durch ihre Bildlastigkeit sehr schnell gelesen. Damit kommt sie ‚Lesemuffeln‘ entgegen und ist wegen der geringen Textmenge, aber auch der geringen Textkomplexität für schwache Lesende gut geeignet. Die meisten Sprechblasen sind mit nur wenigen Worten gefüllt. Die Sätze sind kurz. Der Inhalt ist, unterstützt durch die vielen einfach gezeichneten schwarz-weiß-Bilder, sehr leicht zu erschließen. Gleichzeitig liegt es in der Natur der Graphic Novel, dass – obwohl es durchaus viel um Gefühle geht – fast alle inneren Vorgänge über äußere Handlung, Mimik und Gestik, verdeutlicht werden. Gedanken und Motive sind zwar wichtig für das Fortschreiten der Handlung, müssen aber aus den Zeichnungen heraus abgeleitet werden, so dass Lesende selbst in der Hand haben, wie tief sie sich in Charles und Nick hineinfühlen wollen. Die Liebesgeschichte gleitet ohnehin nie ins Kitschige oder übermäßig Romantische ab und bleibt immer tief in der Lebenswelt heutiger Jugendlicher verwurzelt. Auch die Entwicklung der beiden Protagonisten – Charlies anfänglicher Unglaube, dass Nick gern mit ihm zusammen sein könnte und Nicks Herantasten an die Möglichkeit, er könnte sich in einen Jungen verlieben – wirken nachvollziehbar und realistisch. 

Homo- oder bisexuelle Jugendliche können in den Protagonisten liebenswerte Identifikationsfiguren finden, die unaufgeregt mit ihrer sexuellen Orientierung umgehen. Aber durch die nicht-stereotype Darstellung der beiden Figuren – insbesondere Nick tritt meist im klassischen Sinne maskulin auf – sollte eine solche Identifikation auch für aufgeschlossene heterosexuelle Jungen gut möglich sein. Der Titel macht, sobald man sich auf die Handlung einlässt, schnell neugierig darauf, wie es mit Charlie und Nick weitergeht. Heartstopper. Boy trifft Boy endet dann aber mit einem Cliffhanger und wird alle Leser*innen, die den Reihenauftakt mochten, neugierig auf die weiteren Bände machen. (Der zweite Band erscheint im Herbst 2022 auf Deutsch.) 

Mit Heartstopper gelingt es Alice Oseman in einer Graphic Novel eine sich langsam anbahnende und sehr zarte Liebesgeschichte so zu zeichnen und zu erzählen, dass sie tatsächlich auf viele Jungen spannend und attraktiv wirken kann – vorausgesetzt, sie sind bereit sich auf die Geschichte einzulassen. Lohnend ist die Lektüre ohnehin für jede*n.

Da zu vermuten ist, dass viele Jungen in oder kurz vor der Pubertät im Sinne des ‚doing genders‘ – also, um den an sie gestellten Erwartungen als Jungen zu erfüllen – ungern die Lektüre einer homosexuellen Liebesgeschichte vor Gleichaltrigen positiv bewerten wollen, ist Heartstopper eher als Privatlektüre zu empfehlen. Da der Titel nah an der Lebensrealität von Jugendlichen bleibt und leicht zu lesen ist, können sogar Jugendliche mit geringer Lesekompetenz eine solche Lektüre bewältigen. Denkbar ist der Einsatz des Titels auch in offenen Leseformaten, wobei zu erwarten ist, dass ihn in diesem Fall eher weibliche Jugendliche auswählen.

Wer den ersten Band der Reihe gern gelesen hat, wird auch motiviert sein, die weiteren Bände zu rezipieren. Zusätzlich kann lesemotivierend wirken, dass die Verfilmung der Buchreihe ab April 2022 als Netflix-Serie gestreamt werden kann. Auf Englisch sind bereits vier Bände der Reihe erschienen (Hodder Children's Books  2019 - 2020). Zudem ist die der Reihe zugrunde liegende Novelle Nick & Charlie (HarperCollinsChildren’sBooks 2020), eine Hörbuchfassung dieser Novelle (Alice Oseman: Nick & Charlie, Blackstone Pub 2020) und ein Malbuch erhältlich (Alice Oseman: The Heartstopper Colouring Book,‎ Hodder Children's Books 2020). In den (sozialen) Medien wird dem Titel ebenfalls viel Aufmerksamkeit zuteil. Es gibt beispielsweise eine Podcast-Folge beim WDR zu Heartstopper: www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr2/buchtipps-fuer-kinder/audio-alice-oseman---heartstopper-100.html (Stand März 2022).