Buchcover Boris Koch: Das Schiff der verlorenen Kinder

Das harmlose Spiel von Leo, verkleidet als Bär, artet in einen heftigen Streit mit seinen Eltern...

Rezensiert von Kristina Schmitt

Leo und Felix werden plötzlich in eine andere Welt entführt: Gerade noch am helllichten Tag in ihrem Kinderzimmer, befinden sich die Brüder plötzlich auf einem rätselhaften Schiff in tiefschwarzer Nacht. Auf der Flucht vor gefährlichen Monstern entdecken sie nicht nur die Bedrohungen auf dem Schiff, sondern auch weitere Kinder und Jugendliche. Gemeinsam wollen sie einen Ausweg finden und begeben sich dabei in Lebensgefahr. Eine spannende Graphic Novel, die mit eindrücklichen Bildern den Auftakt einer dunklen, magischen Geschichte erzählt.

BuchtitelDas Schiff der verlorenen Kinder
AutorBoris Koch
GenreHorror & Grusel
Comic & Graphic Novel
Lesealter12+
Umfang136 Seite
Edition1. Auflage
VerlagSplitter Verlag
ISBN978-3967922196
Preis19,80 €
Erscheinungsjahr2021

Das harmlose Spiel von Leo, verkleidet als Bär, artet in einen heftigen Streit mit seinen Eltern aus, die ihn, gemeinsam mit seinem kleinen Bruder Felix, auf sein Zimmer schicken. Kaum wurde die Türe zugeknallt, verändert sich schon der kleine Raum: Über dem Schreibtisch bildet sich ein großes Bullauge, dahinter Wellengang auf rauer See und es ist plötzlich mitten in der Nacht. Die beiden Jungen können ihren Augen kaum glauben, als sie die Türe des Kinderzimmers öffnen und statt vor ihren Eltern mitten auf einem riesigen Schiff stehen. 

Leo und Felix sind gefangen auf dem sogenannten ‚Seelenfänger‘, einem Frachter zusammengesetzt und aufgetürmt aus lauter Kinderzimmern, die mitsamt ihren Bewohner*innen aus der Wirklichkeit gerissen wurden. Alle Kinder und Jugendlichen auf diesem Schiff haben eines gemeinsam: Sie wurden verstoßen, entführt, misshandelt, eingesperrt, bedroht oder haben ein anderes schreckliches Schicksal erlitten, das sie dazu bewogen hat, sich aus ihrem Kinderzimmer fortzuwünschen – oder noch schlimmer: Sie wurden fortgewünscht. Ursprünglich sammelte der Kapitän des Schiffes diese armen Geschöpfe ein und brachte sie auf der ‚Rückseite der Wirklichkeit‘ auf seinem Schiff in Sicherheit oder wieder zurück in ihr Leben, wenn sie das wollten.

Doch mit den traumatisierten Kindern und Jugendlichen gehen jeweils auch ihre Ängste und Albträume in Form von Monstern an Bord. Die Zerrgestalten folgen ihren Opfern hinter die Wirklichkeit und treten dort als Werwölfe, Vampire, Dämonen oder andere denkbar furchteinflößende Kreaturen in Erscheinung. Diese Monster haben eines Tages den Kapitän gestürzt, das Schiff übernommen und die Kinder und Jugendlichen getötet oder zu ihren Sklav*innen gemacht. Seitdem treibt das Schiff auf dem Nachtmeer, auf dem es niemals Tag wird und die Monster ernähren sich von den Ängsten der Kinder und Jugendlichen, die Tag für Tag neu auf dem Schiff ankommen – gemeinsam mit immer mehr Monstern.

So sind auch Leo und Felix auf den Seelenfänger gerissen worden, sie können jedoch vor den Monstern fliehen und kämpfen nun mit den Mädchen Chrissy und Asra, die sie in ihrem geheimen Versteck untergebracht hat, um ihr Überleben. 


Eine Leseprobe kann hier eingesehen werden.

Das Schiff der verlorenen Kinder erzählt in ausdrucksstarken Illustrationen eine fantastische Geschichte, die ihre Leser*innen auf die ‚Rückseite der Wirklichkeit‘ entführt und dabei eine völlig neue, spannende Welt entwirft.

Die düstere, magische Atmosphäre der Graphic Novel wird von Anfang an durch Leos fantasievolles Spiel als Bär aufgebaut und steigert sich durch den plötzlichen Wechsel aus der realen in die fantastische Welt kontinuierlich. Angekommen auf dem Schiff nimmt das gruselige Abenteuer für Leo und Felix rasant Fahrt auf. Sie betreten die Korridore des Frachters und treffen gleich zu Beginn auf ein schreckliches Monster: ein riesiger, furchteinflößender Werwolf, der es auf ein verängstigtes Mädchen abgesehen hat. Die beiden Brüder beweisen Mut und wollen Chrissy helfen. Zu dritt kämpfen sie gegen das Monster, werden von ihm verfolgt, können es durch die Hilfe der erfahrenen Passagierin Asra besiegen und sich in ein Versteck retten, bevor die anderen Monster auf sie aufmerksam werden. Das Mädchen beantwortet den drei Neuankömmlingen ihre Fragen rund um das Schiff und die Monster. 

Die fesselnde Wirkung der Lektüre durch die actionreichen Kämpfe, die panische Verfolgungsjagd und die ganze Darstellung der düsteren Welt, die die Leser*innen in einen schrecklichen Albtraum versetzt, wird durch die fantasievollen, beeindruckenden Illustrationen erhöht. Durch die darauffolgenden Rückblenden auf die positive Vergangenheit des Schiffes haben die Leser*innen für einen kurzen Moment Zeit, aufzuatmen und sich von den schnellen Ereignissen mit hohem Gruselfaktor zu erholen.  

Während der gesamten Lektüre stehen Angst und Mut sowie Hoffnung und Verzweiflung in einem ungebrochenen Spannungsverhältnis, das sich auch in den dunklen und hellen sowie kalten und warmen Farben der Bildgestaltung widerspiegelt. So steht das Schiff selbst in konträrer Bedeutung: Ein Ort der Sicherheit und unbeschwerter Kindheit in vergangenen Zeiten, der nun von Schrecken und Angst beherrscht wird. Die unterschiedlichen Funktionen des Schiffes werden sehr genau und ausführlich beschrieben und setzen nicht nur für diesen Band, sondern vor allem für die Folgebände der Reihe den Handlungsrahmen fest. Unter der Führung des hilfsbereiten Kapitäns wird das Ankommen auf dem Frachter, auf der Rückseite der Wirklichkeit, „die aus Träumen geboren wurde“ (S. 106), als Erlösung beschrieben. Ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche vor der schrecklichen Wirklichkeit fliehen und mit den anderen ‚Verschollenen‘, so nennen sich die Passagiere selbst, in Freundschaft, Sorglosigkeit und mit allerlei Abenteuern auf der ‚Nimmersee‘ leben können. Dies wird auch mit der begrifflichen Anlehnung an Peter Pans ‚Nimmerland‘ unterstrichen, das für ewige Kindheit und Jugend und Eskapismus steht. Diese Rückblicke auf eine positive Vergangenheit des Schiffes bleiben jedoch unbestätigt: Die Kinder und Jugendlichen auf dem ‚Seelenfänger‘ hinterfragen diese Geschichte, für die es keine Zeitzeug*innen mehr gibt und rätseln, ob es vielleicht nur Wunschvorstellungen seien, die sie hoffen lassen. Auch wenn die Frage um die Vergangenheit in diesem Band nicht aufgelöst wird, geben die Rückblenden Raum für Vermutungen für den weiteren Verlauf der Reihe und stellen auch für die Leser*innen einen Hoffnungsschimmer in der schrecklichen Welt der Monster dar. Der Gruselfaktor wird jedoch nur kurz unterbrochen, denn die hoffnungsvollen Sequenzen werden von Illustrationen der verängstigen Kinder und Jugendlichen, die als Sklav*innen für die fürchterlichen, gefährlichen Kreaturen arbeiten, abgelöst. Damit scheint die Situation der vier Kinder ausweglos und die Panik steigt weiter an. 

Dabei werden die Ängste und Traumata der Kinder sehr stark durch die dynamischen Illustrationen und die glaubwürdigen Dialoge in Szene gesetzt. Daneben werden aber auch der große Mut und die Stärke der Kinder hervorgehoben sowie ihr Sinn für Freundschaft, Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft, obwohl sie sich gerade erst kennengelernt haben. Die beiden Protagonisten Leo und Felix sowie Chrissy und Asra weisen sehr unterschiedliche Charakterzüge auf und sind dabei sehr authentisch dargestellt. Das erhöht das Identifikationspotenzial für junge Leser*innen und lässt sie leicht in die Geschichte eintauchen. Die Visualisierung der Albträume, Monster und Ängste greift die kindliche Fantasie und Psyche auf und kann sicherlich für jede*n Leser*in einen Anknüpfungspunkt zum Mitfühlen und Nachdenken anbieten. 

Das Lesealter wird vom Verlag bei 14+ angesetzt. Jedoch kann die Graphic Novel bereits ab 12 Jahren empfohlen werden, auch wenn der Gruselfaktor nichts für schwache Nerven ist. Der geringe Textanteil weist eine gute Lesbarkeit auf und die Bildgestaltung unterstützt die Vorstellungskraft, sodass die Geschichte gut nachvollziehbar ist. Somit stellt Das Schiff der verlorenen Kinder eine großartige Lektüre für mutige Leser*innen dar und regt zugleich zum Lesen der Folgebände an. 

Die Graphic Novel eignet sich besonders für Verfahren der Leseanimation wie Buchvorstellungen, Leserollen, Bookslams usw. Zudem ist Das Schiff der verlorenen Kinder ein passender Titel für Klassen- bzw. Schulbibliotheken sowie öffentliche Bibliotheken. 

Für Jugendliche, die nicht oder wenig lesen und sich durch das Comicgenre zur Lektüre motivieren lassen, ist die Graphic Novel eine absolute Leseempfehlung. Durch ausdrucksstarke Illustrationen, wenig Textanteil und einem hohen Spannungs- und Gruselfaktor können auch schwache Leser*innen schnelle Erfolgserlebnisse bei der Lektüre erzielen. Das offene Ende und die ungelösten Rätsel (z.B. die Bedeutung der Nummer 4213 oder die Frage, was mit dem Kapitän passiert ist) regen zudem die Neugierde an und animieren zum Lesen der Fortsetzungsbände. 

Interessante Aspekte sowohl für eine außerschulische als auch für eine schulische Behandlung der Graphic Novel bieten die intertextuellen Bezüge: Zum wird ganz konkret ein Anknüpfungspunkt zu Peter Pan hergestellt: „Das Meer um sie herum nannten sie in Anlehnung an Peter Pan die Nimmersee“ (S. 104). Hier könnte auf die Gemeinsamkeit und Unterschiede von ‚Nimmersee‘ und ‚Nimmerland‘ sowie das Thema Kindheit und Eskapismus diskutiert werden. Auch zu zahlreichen anderen Klassikern der KJL lassen sich Verbindungen herstellen, z.B. Sophiechen und der Riese von Roald Dahl, Der Rattenfänger von Hameln nach den Gebrüdern Grimm oder Die Chroniken von Narnia von Clive Staples Lewis.

Zudem können in der Auseinandersetzung mit der Geschichte der ‚verlorenen Kinder‘ auch Ängste, Traumata und Elternbeziehung in diversen Kontexten besprochen werden. Die Aktualität von Vernachlässigung, Misshandlung und Gewalt im häuslichen Kontext haben gerade in der Pandemie durch Lockdown-Situationen an Aktualität gewonnen. Die Graphic Novel kann für dieses Thema sensibilisieren und Leser*innen gegebenfalls auch Identifikationsmöglichkeiten anbieten. Alle Kinder auf dem ‚Seelenfänger‘ hatten eine traumatisierende Kindheit und/ oder Jugend und befanden sich in einer Situation, aus der sich fortgewünscht haben oder fortgewünscht wurden. Doch auf dem ‚Seelenfänger‘ geht es ihnen nicht besser, auch dort lauern Monster vor ihren Zimmertüren. Diese düstere Welt voller Ängste und Albträume, die in Form der Monster Gestalt annehmen, lassen sich auch auf den realen Alltag dieser Kinder übertragen. Der Mut, die Hoffnung und der Zusammenhalt der Figuren in der Graphic Novel können kleine Hoffnungsschimmer für die reale Welt vieler Kinder und Jugendliche darstellen.