Buchcover Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch!

In den Kriegstrümmern der Stadt Hamburg leben drei Kinder: Jakob, Traute und Herrmann. Zwar kämpfen...

Rezensiert von Frederic Reese

Juni 1945, die Stunde Null. Deutschland liegt in Trümmern. In Hamburgs Trümmern leben drei Kinder, kämpfen ums Überleben und mit individuellen Nöten: Jakob, ein jüdischer Junge, der in den Trümmern ausharrt, Traute, ein Mädchen, welches ihre Kindheit vermisst und Herrmann, der unter dem verlorenen Krieg und seinem traumatisierten Vater leidet. Drei Perspektiven auf einen erst ganz kurz beendeten Krieg, die dessen Schrecken und den folgenden Überlebenskampf zeigen - (leider) so aktuell wie schon lange nicht mehr.

BuchtitelHeul doch nicht, du lebst ja noch!
AutorKirsten Boie
GenreComing of Age
Gegenwart & Zeitgeschichte
Lesealter12+
Umfang176 Seiten
Edition1. Auflage
VerlagVerlag Friedrich Oetinger
ISBN978-396-052-2515
Preis14,00 €
Erscheinungsjahr2022

In den Kriegstrümmern der Stadt Hamburg leben drei Kinder: Jakob, Traute und Herrmann. Zwar kämpfen alle mit individuellen Sorgen und Problemen, doch kreuzen sich ihre Wege in der Trümmerwüste und die Handlung wird aus allen drei Perspektiven erzählt.

Jakob, ein Halbjude und vermeintlicher Vollwaise, harrt in der Trümmerwüste aus, in der er von einem Bekannten, Herrn Hofmann, vor der Deportation versteckt wurde. Doch er weiß nicht, dass der Krieg vorbei ist. Als er eines Tages versucht, sich mit Gewalt Nahrung zu verschaffen, lernt er Traute und Herrmann kennen. Er gibt seine wahre Identität nicht preis, bis die anderen ihm das Kriegsende offenbaren und er durch die Nachbarin des mittlerweile verstorbenen Herrn Hofmann als Jude identifiziert wird. Jakob, der von den Ereignissen überfordert ist, findet zudem heraus, dass seine Mutter, die nach Theresienstadt deportiert wurde, überlebt hat und nach Hamburg zurückkehrt. 

Traute, die Tochter eines Bäckers, leidet unter der häuslichen Enge, bedingt durch die Einquartierung von Flüchtlingen aus dem Osten, sowie unter ihrer geraubten Kindheit. Sie versucht verzweifelt die Akzeptanz der Jungenclique um Hermann zu erlangen. Mit der Zeit gelingt ihr dies auch, sie akzeptiert die Ostflüchtlinge und schenkt den Flüchtlingskindern ihre geliebten Puppen. Sie zieht hiermit einen Schlussstrich unter ihre Kindheit. 

Hermann, ein nach wie vor verblendeter und indoktrinierter Hitlerjunge, leidet unter dem verlorenen Krieg sowie dem kriegsverletzten Vater, der wegen seiner Behinderung aggressiv und verbittert ist. Hermanns Mutter verdient als Trümmerräumerin sowie heimlich als KFZ-Mechanikerin den Lebensunterhalt für die Familie. Sie hat wie ihr Sohn nur Verachtung für den Vater übrig. Als ein Freund der Familie, der für die Amerikaner arbeitet, anbietet, Herrmann mit nach Amerika zu nehmen, sieht der Junge einen Lichtblick in der aussichtslosen Situation. Aus Loyalität und Pflichtgefühl seiner Familie gegenüber verwirft er diesen Gedanken jedoch frustriert und wütend. Als er seinem Vater im Zorn seine Verachtung und Wut ins Gesicht schreit, begeht dieser anschließend Suizid und stürzt sich aus dem Fenster, da er in seinem Leben und seiner Existenz keinen Sinn mehr sieht. 

Eine Leseprobe kann hier eingesehen werden.

Fast nach genau ein Jahr nach der Erstveröffentlich von Dunkelnacht erscheint ein neuer Jugendroman von Kirsten Boie, der sich dem Thema des Nationalsozialismus annimmt. Anders als in Dunkelnacht werden hier nicht die letzten Kriegstage dargestellt, sondern die unmittelbare erste Nachkriegszeit. Die vordergründigen Probleme der Zeit (Hunger, Zerstörung, der Umgang mit Kriegsversehrten, Verlust der Kindheit, usw.) werden durch die drei Perspektiven von Jakob, Traute und Hermann dargestellt. Die wechselnden Perspektiven sind für die Leser*innen gut nachvollziehbar, werden sie doch stets durch die Kapitelüberschriften angekündigt. Diese geben außerdem Anhaltspunkte zur erzählten Zeit wieder, was unerfahrenen Leser*innen bei der Orientierung innerhalb der zeitlichen Chronologie helfen kann. Zudem wird die zeitliche Kompaktheit der erzählten Ereignisse bewusst gemacht. Anders als Dunkelnacht hat der aktuelle Roman teilweise Momente, in denen ein Spannungsbogen fehlt. Dies wird jedoch durch Boies klaren und präzisen Schreibstil aufgefangen. Durch kurze Hypo- und Parataxe sowie einfache sprachliche Bilder ist die Trümmerlandschaft Hamburgs, sind die beengten Räumlichkeiten bei Traute und Hermann sowie ‚der Wigwam‘, Jakobs Versteck, den Leser*innen leicht vorstellbar. Verwendete historische Fachbegriffe zum Nationalsozialismus sind wie bereits bei Dunkelnacht im Anhang alphabetisch gelistet und erklärt. Hierbei zeigt sich ebenfalls, dass Kirsten Boie in gewohnter Weise fundierte Recherchen betrieben hat und es sich bei dem Jugendroman keinesfalls um eine reißerische fiktionale Story handelt. Thematisch wagt sich die Autorin erneut an ein bedeutendes, aber auch schwieriges Thema heran. Die bereits angesprochenen allgemeinen Probleme der Nachkriegszeit werden durch weitere tiefgreifende und höchst emotionale Aspekte verkörpert und durch die handelnden Personen verstärkt: Jakobs monatelanges Verstecken und Verleugnen seiner Herkunft und Identität sowie die Deportation seiner Familie; Trautes verzweifelte Versuche nach der Wiedererlangung ihrer Kindheit und das radikale Beenden dieser zum Schluss des Romans; Hermanns Identitätskrise durch die Enthüllungen über das nationalsozialistische Regime und Gedankengut, an welches er so glühend geglaubt hat, sowie seine Zukunftssorgen, zunichtegemacht durch seinen kriegsversehrten tyrannischen Vater, der zum Ende Suizid begeht. All dies macht betroffen und zeigt somit auch deutlich, dass diese Lektüre nicht unbegleitet gelesen werden sollte. Die dargestellten Punkte bieten allerdings auch Anknüpfungspunkte an die aktuelle Lebenswelt der jungen Leser*innen. Die Themen Tod, Krieg und Zerstörung sind mit dem aktuellen Krieg in der Ukraine omnipräsent, ebenso die daraus folgende Fluchtbewegung tausender Ukrainer*innen. Die Figur Hermanns bietet (angeleitet) zudem an, die nationalsozialistische Erziehung und Indoktrination mit dem Aufwachsen in einer demokratisch-liberalen Gesellschaft zu vergleichen, um letztere als Errungenschaft und Privileg zu würdigen. Des Weiteren rückt die Figur von Hermanns Vater das (vermeintliche) Tabu-Thema Depression sowie Suizid in das Blickfeld Jugendlicher und lädt zum Reflektieren und Diskutieren ein. Kirsten Boie hat somit Recht, wenn sie das Buch für Leser*innen ab zwölf Jahren empfiehlt [https://www.ndr.de/kultur/buch/buchdesmonats/NDR-Buch-des-Monats-Januar-Heul-doch-nicht-du-lebst-ja-noch,heuldochnicht102.html], dennoch soll an dieser Stelle erneut auf die Notwendigkeit einer Lesebegleitung hingewiesen werden. Insgesamt lässt sich Heul doch nicht, du lebst ja noch als ein Roman zusammenfassen, der versucht schonungslos und authentisch über die Nachkriegszeit aufzuklären. 

Das Buch eignet sich vor allem für die institutionelle Leseförderung im Bereich Schule. Auszüge könnten sowohl im Deutsch- als auch Geschichtsunterricht gelesen und je nach Bedarf mit einem fächerspezifischen Fokus analysiert werden. Die nationalsozialistische Sprache würde sich z. B. in beiden Fächern behandeln lassen. Auch bieten die Themen der Identitätsfindung, Zukunftsängste sowie Depression und Suizid Möglichkeiten der gemeinsamen Reflexion und Diskussion. Von einer unbegleiteten privaten Lektüre des Buches im Altersbereich 12+ ist, wie bereits erwähnt, eher abzuraten. 

Der Roman wurde ebenfalls als Hörbuch vertont, dieses könnte somit als Ergänzung zur Lektüre genutzt werden.

Wem Heul doch nicht, du lebst ja noch gefällt, könnte ebenfalls an Dunkelnacht von Kirsten Boie sowie Der Junge auf dem Berg und Der Junge im gestreiften Pyjama von John Boyne Interesse haben. Letzteres wurde bereits verfilmt (UK/USA 2009).