Rezension von Frederic Reese
Bjarne hat nur einen großen Wunsch – er möchte einer der Begabten sein, die fliegen können. Hierfür ist er bereit alles zu tun, was ihm letzten Endes einen Aufenthalt im Camp der Unbegabten beschert, wo er auf die Suche nach sich selbst als auch seinem verschwundenen besten Freund geht. Ein spannendes und humorvolles Buch über Freundschaft, Träume und das Klarwerden über die eigenen Talente.
Buchtitel | Das Camp der Unbegabten |
Autor | Boris Koch |
Genre | Abenteuer Fantasy |
Lesealter | 12+ |
Umfang | 314 Seiten |
Verlag | Thienemann |
ISBN | 978-3-522-20263-3 |
Preis | 16,00 € |
Bjarne ist ein normaler 14-jähriger Junge. Doch er möchte nicht normal sein, sondern ein „Begabter“, ausgestattet mit der superheldenähnlichen Begabung des Fliegens. Um eine Begabung in sich zu wecken, springen Bjarne und sein bester Freund Luca von einer Brücke. Bei Bjarne führt das nur zu einer Verletzung, in seinem Freund Luca wird hingegen tatsächlich eine Begabung (Nachtsichtblick) freigesetzt. Luca gehört fortan zu den auserwählten Stars und wechselt an die Begabtenschule. Bjarne versucht durch immer waghalsigere Aktionen das Fliegen zu erlernen und auch seinen Eltern lassen wenig unversucht, um ihren Sohn und sich selbst den Traum der Begabung zu erfüllen. Nach einem weiteren gefährlichen, aber missglückten Versuch wird Bjarne von einem Psychologen vor die Wahl gestellt: Entweder drei Monate stationäre Psychiatrie oder vier Wochen ins „Camp der Unbegabten“. Bjarne entscheidet sich für letzteres. Das Camp wird vom charismatischen Multimillionär Oliver Hingsen geführt, selbst ein Unbegabter, der den unbegabten Jugendlichen Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen beibringen möchte. Bjarne freundet sich schon bald mit weiteren Campteilnehmer*innen an, die Freundschaft zu seinem ehemals besten und nun begabten Freund Luca nimmt dagegen immer mehr ab. Während des Campaufenthalts wird eine Begabte von der Organisation „Galahads Erben“ entführt. Diese Organisation will eine Ausgrenzung der Begabten, die sie als „Mutanten“ bezeichnen, erreichen. Die Entführung spaltet sowohl die Gesellschaft als auch das Camp immer mehr in zwei Lager. Nachdem Luca vergeblich versucht, sich bei einem Besuch im Camp mit Bjarne zu versöhnen, verschwindet auch er. Gemeinsam mit seinen neuen Freunden Bruce und Sia macht Bjarne sich auf die Suche nach Luca. Er findet ihn schließlich in einer unterirdischen Anlage unter dem Camp. Der Camp-Leiter Hingsen entpuppt sich dabei als der Bösewicht, welcher bereits vorher andere Begabte entführt hat, um sich deren Begabung zu bemächtigen. Bjarne überwältigt den Kriminellen und befreit Luca. Die beiden Jungen versöhnen sich und kehren nach Hause zurück.
Eine Leseprobe kann hier eingesehen werden.
Die Handlung, die sich um das allgegenwärtige Thema ‚Begabung‘ dreht, ist logisch und stimmig aufgebaut, enthält zwar nur wenig überraschende Momente, aber wirkt auch wirklich niemals langweilig oder langatmig. Von besonderem Interesse ist die Verwendung der Begrifflichkeit ‚Begabung‘ und nicht die der „Superheldenkraft“. Begabung ist ein vielseitiger Begriff, sie kann in verschiedenen Kontexten unterschiedlich be- und gewertet werden. Das Phänomen der ‚Begabung‘ in der fiktiven Welt wird mit Erscheinungen der realen Welt gekoppelt und verglichen, z. B. der Begabung ein Fußball-Star zu werden. Hierdurch grenzt sich das Buch von klassischen Superhelden-Geschichten ab. In ihnen sind die Protagonisten durch ihre Kräfte zwar etwas Besonderes, jedoch selten im monetären Bereich. Die ,Begabten‘ hingegen vermarkten ihre Begabung und Talent durch Sponsoring, Werbeverträge, etc. und sind stark in den Sozialen Medien vertreten. Sie werden somit zu „klassischen“ Influencern. In diesem Zusammenhang wird aber auch die reißende Dynamik digitaler Shitstorms deutlich: Die ,Begabten‘, zuerst geliebt und gefeiert, werden nach einem geleakten Video, in welchem sie sich abfällig über ,Normalos‘ äußern, gehasst und verdammt. Auch das Verbreiten von Verschwörungstheorien über Soziale Plattformen, was häufig mit großer Furcht vor ‚dem Fremden‘ einhergeht, wird aufgegriffen und verweist hiermit auf ein hochaktuelles Problem.
Ein weiterer gesellschaftskritischer Aspekt ist der Leistungsdruck, der u. a. durch Bjarnes Eltern ausgeübt wird. Dieser kann als Kommentar auf die heutigen Umstände, in denen Kinder und Jugendliche aufwachsen, gelesen werden. Dies wird insbesondere an dem ,Schicksal‘ Lucas deutlich, welcher auf Drängen seines Vaters ein Nachwuchsleistungszentrum eines namenhaften Bundesligisten durchläuft, ohne eigene Ambitionen hierfür zu hegen.
Neben diesen gesellschaftskritischen Aspekten spielen Themen wie Freundschaft und Identitätsfindung („Wer bin ich? Was kann ich? Was macht mich aus?“) eine große Rolle und sind somit potenziell für die Leserschaft 12+ sehr interessant und lebensnah. Außerdem bietet die Figur Bjarnes mit ihren pubertären ‚Defiziten‘ sowie ihrem unbändigen Wunsch nach der ‚Begabung‘ /Superkraft des Fliegens sehr gutes Identifikationspotential für junge LeserInnen, insbesondere für Jungen. (Denn sind wir mal ehrlich, wer hat sich noch nicht gewünscht, fliegen zu können?)
Die Sprache des Buches ist trotz mancher längeren Satzgefüge eher einfach und klar gehalten, die englischen Namenszusätze der ‚Begabten‘ lassen sich aus dem Kontext ihrer ‚Begabung‘ entschlüsseln und bieten außerdem einen kritischen Reflexionsansatz (englische Namensverwendung als Vermarktungsstrategie).
Das Buch kann zur Leseförderung im Sinne des Viellese-Verfahrens genutzt werden, aber auch zur persönlichen Lektüre. In der Schule bietet es sich bedingt als Klassenlektüre an. Durch das Lesen und Analysieren bestimmter Auszüge ließen sich aber Themen wie Medieneinfluss oder Gerechtwerden von Erwartungshaltungen diskutieren. Um mit Schüler*innen die Entstehungsgeschichte und Autor*innenintention eines Buches zu ergründen, könnte auch das Autoreninterview mit Boris Koch genutzt werden. Ebenso bietet Koch in seinem YouTube-Kanal eine Leseprobe des ersten Kapitels an.