Buchcover John Boyne: Mein Bruder heißt Jessica

Sams Eltern sind so sehr mit ihrer politischen Karriere beschäftigt, dass sie für ein Familienleben...

Rezension von Eva Maus

Kann der perfekte große Bruder - beliebt, erfolgreich, gutaussehend und immer da, wenn man ihn braucht - in Wirklichkeit eine Schwester sein? Für Sam ist das genauso unvorstellbar wie für seine Eltern. John Boyne beweist einmal mehr, wie fesselnd er erzählen kann, und schildert den schweren Weg der Familie zur Akzeptanz von Jessicas Transsexualität ohne Klischees zu bemühen oder Sams Perspektive zu verlassen.

BuchtitelMein Bruder heißt Jessica
AutorJohn Boyne
GenreComing of Age
Gegenwart & Zeitgeschichte
Lesealter12+
Umfang256 Seiten
VerlagFischer KJB
ISBN978-3-7373-4219-3
Preis14,00 €

Sams Eltern sind so sehr mit ihrer politischen Karriere beschäftigt, dass sie für ein Familienleben kaum Zeit und Energie haben. Zum Glück hat Sam seinen großen Bruder Jason, der immer für ihn da und sein ganz großes Vorbild ist. Doch dann beginnt Jason sich seltsam zu frisieren, trägt ungewohnte Kleidung und sagt seiner Familie schließlich, dass er sich schon lange als Mädchen fühlt. Sam kann das nicht verstehen, leidet unter den Gerüchten in der Schule und auch seine Eltern reagieren mit Unverständnis. Sam will keine Schwester und vermisst seinen Bruder. Er schneidet ihm sogar nachts die langen Haare ab, weil er hofft, so alle Veränderung umkehren zu können. Im Streit flieht Jason schließlich zu seiner Tante und wird zu Jessica. 

Währenddessen gerät das Bemühen ihrer Mutter um den Posten des Premiers ins Wanken, weil sich Sam seiner Freundin anvertraut und so über Umwege Jessicas Transsexualität öffentlich wird. Als eine Eskalation droht, erklärt sich Jessica aus Rücksicht auf ihre Familie bereit, mit dem falschen, männlichen, Geschlecht zu leben. Das bewegt wiederum Sam, und mit ihm seine Eltern, Jessica als junge Frau anzuerkennen und zu ihr zu stehen. Für alle überraschend gelingt nicht zuletzt durch dieses Statement der Wahlerfolg – und das familiäre Happy End.

Eine Leseprobe kann hier eingesehen werden.

Mein Bruder heißt Jessica ist ein ganz besonderes Buch über Transsexualität und das hat (mindestens) drei starke Gründe: 

Erstens ist nicht die titelgebende transsexuelle junge Frau Hauptfigur des Buches, sondern ihr jüngerer, 14-jähriger Bruder Sam. (Ähnlich wie zum Beispiel auch in Meine Mutter, sein Exmann und ich von T. A. Wegberg.) Da das gesamte Buch aus seiner Perspektive geschildert wird, können Lesende gut nachvollziehen, wie wichtig ihm der große Bruder ist, warum er sich so sehr gegen dessen Veränderungen wehrt und wieso er schließlich doch zu seiner Schwester stehen kann. Sam bleibt trotz seines teilweise unsensiblen Verhaltens damit immer eine geeignete Identifikationsfigur für Lesende ab zwölf Jahren – unabhängig von ihren bisherigen Einstellungen und Erfahrungen mit bzw. zu queeren Themen.

Zweitens werden nicht – wie es leider in LGBTQ+-Literatur immer wieder der Fall ist – Geschlechterstereotype bemüht, um Transsexualität zu unterstreichen. Jessica möchte zwar lange Haare und weibliche Kleidung tragen, spielt aber auch sehr gut Fußball, war vor ihrer Transformation beliebt bei den Mädchen und wird insgesamt als runde und ausgesprochen positive und sympathische Figur dargestellt. Ihre Schwierigkeiten bei ihrer Transformation bleiben nur am Rande Thema des Buches, das sich vor allem mit Sams Handlungen, Gedanken und Gefühlen beschäftigt. Auch die Nebenfiguren entsprechen keinen Klischees: Jessicas Fußball-Coach zum Beispiel hat überhaupt keine Probleme mit ihrer Geschlechtsidentität.

Drittens schafft es John Boyne in Mein Bruder heißt Jessica einmal mehr, spannend, ergreifend, komisch und tragisch zugleich zu schreiben und dabei immer den richtigen Ton zu finden, so dass weder Kitsch noch Langeweile oder pädagogische Bemühtheit aufkommen. Auch Textschwierigkeit, Umfang und Gestaltung des Buches sind dem Alter angemessen. Jessicas Transsexualität ist Auslöser für viele Veränderungen in Sams Leben, aber auch andere Themen beschäftigen ihn, wie die erste Liebe und die Scheinheiligkeit der nur oberflächlich toleranten Eltern. 

Obwohl immer wieder auch Sams Gefühle und Gedanken thematisiert werden, trägt der Spannungsbogen durch ein intelligentes Buch zu einem gesellschaftlich relevanten und hochaktuellen Thema und ist damit bestens als Lektüre (auch) für lesemuffelige Jungen geeignet.

Weil die Lesenden in Mein Bruder heißt Jessica aus der Perspektive des anfangs unwissenden und in die Situation langsam hineinwachsenden kleinen Bruders an die Thematik der Transsexualität herangeführt werden, ist der Titel gut für die private, auch unbegleitete Lektüre geeignet. In einer Bücherkiste zu queeren Themen oder in einer gut sortierten Bibliothek sollte das Buch nicht fehlen. Auch für den Unterricht ist es gut geeignet, sofern nicht zu große Kontroversen unerwünscht, aber angesichts der konkreten Schüler*innen erwartbar sind.

Zudem ist der Titel nicht auf das Thema Transsexualität reduzierbar, sondern bietet gleichermaßen Gesprächsanlässe und Denkanstöße zum Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, Toleranz, dem Umgang mit Gerüchten, der ersten Liebe, Vertrauen und vielem mehr.