Buchcover Antje Herden: Keine halben Sachen

Robin scheint die Lust am Leben verloren zu haben. Die Schule interessiert ihn schon lange nicht...

Rezension von Martina Frey-Walter

In einem Netz aus Drogen und Gewalt beginnt Robin sich selbst zu verlieren. Seine Mutter, alte Freunde, eine erste Liebe: nichts und niemand kann seinen in LSD getränkten Fall aufhalten. Als Robin denkt, sich langsam zu erholen verändert ein Brief seines besten Freundes Leo alles und stellt die Realität in Frage. Antje Herdens ungeschönter Drogenroman bietet weit mehr als einen oberflächlichen Einblick in die Welt der Berliner Drogenszene. Bereits mit dem Peter Härtling Preis prämiert!

BuchtitelKeine halben Sachen
AutorAntje Herden
Lesealter14+

Robin scheint die Lust am Leben verloren zu haben. Die Schule interessiert ihn schon lange nicht mehr, seine langjährigen Freunde langweilen ihn. Das Gefühl von Zugehörigkeit ist ihm längst verloren gegangen. Als Sohn einer alleinerziehenden Mutter, die sich kontinuierlich mit ihrem eigenen Kummer auseinanderzusetzen hat, bleibt dem Jungen zu viel Zeit um eine vollkommen neue Richtung einzuschlagen.

Als Robin dann auf Leo trifft eröffnet sich ihm die Welt der Drogen. Beim gemeinsamen Konsum von Haschisch verbleibt es jedoch nicht lange, die Kombination aus LSD und Alkohol ist es, die Robin in ein Netz aus Depression und Gewalt reißt. Leo wird für Robin zum steten Lebensbegleiter. Die gemeinsame Zeit im Rausch und ein tiefes Verständnis für Robins Gefühlswelt eröffnen eine neue Perspektive auf ihre Männerfreundschaft. Robin verfällt Leo, sucht seine Nähe, lässt sich immer tiefer in ein Netz aus abseitiger Lebensphilosophie und Selbstmitleid ziehen. Die erste sexuelle Erfahrung mit einem Mädchen lässt Robin kalt, es scheint als wäre Leo enttäuscht von ihm. Auch eine erste aufkeimende Liebe vermag es nicht, Robin die Kraft zu geben aus seinem Rausch zu entfliehen. Je länger der Drogenkonsum andauert, je dumpfer fühlt sich Robins Leben an. Doch, egal ob Ladendiebstahl oder Straßenschlägerei, Leo scheint Robin immer dann zu verlassen, wenn er ihn am meisten braucht.

Selbst der Berliner Polizei fällt Robin mehrmals auf. Letztlich beginnt er die Kontrolle über seine Emotionen zu verlieren. Robins Mutter scheitert bei dem Versuch ihren Sohn zu stützen. Die Distanz zwischen Mutter und Kind vergrößert sich täglich. Robin baute eine Mauer aus Aggression um sich.

Die Situation um Robin spitzt sich dramatisch zu. Nur knapp dem Tod entronnen, muss er erkennen, dass nicht die Drogensucht sein größtes Problem ist, sondern Leo.

Eine Leseprobe kann hier eingesehen werden: bit.ly/2WsKSOr

„Wir tanzten, lachten, rauchten und redeten die ganze Nacht und den nächsten Vormittag. Ohne Unterlass. Über das Leben, die Liebe und was es bedeutete, hier zu sein. Ob es überhaupt etwas bedeutete, hier zu sein. Ich war sicher, dass wir hochphilosophische Gespräche führten. Du und ich. Aber als ich dann runterkam, konnte ich mich nicht mehr daran erinnern.“ (S.25)

Antje Herdens Roman mag zu Beginn den Eindruck erwecken eine weitere stereotype Drogenstory zu sein, doch weit gefehlt. Die Präzision mit der die Autorin die Leichtigkeit des Einstiegs in das Drogenmilieu im Berlin der Jetztzeit beschreibt, vermag es den Lesenden einen tieferen Einblick in die Gedankenwelt junger Menschen mit akuter Suchterkrankung zu liefern.

Den Rezipierenden begegnet ein Berliner Junge, gelangweilt, alleine und dabei, sich sozial und emotional von allen Bezugsnormen zu distanzieren und sich in der Großstadt zu verlieren. Denn Robin hängt in der Luft, die alleinerziehende Mutter scheint anfänglich emotional instabil. Er distanziert sich im Laufe der Handlung nicht nur von ihr, sondern auch von seinen langjährigen Schulfreunden und lässt dafür den Kontakt zu Leo zu, der scheinbar aus dem Nichts auftaucht und Robin in die Welt der Drogen entführt. Für Robin ist diese Freundschaft bedeutend, beide sprechen, trinken und rauchen die Nächte durch. Blindes Verständnis für einander verbindet die beiden Jungs, die sich gemeinsam im Rausch verlieren. Immer wieder verschwindet Leo auf unerklärliche Art und Weise, um dann so schnell wieder an Robins Seite aufzutauchen, wie er den nun sozial isolierten Jungen zurückgelassen hat.

Es ist Robins Perspektive, aus der heraus Herden erzählt und die den Rezipierenden aufzeigt, wie simpel und schnell der Zugang zu starken Drogen für Jugendliche heute sein kann.

Gleichsam berücksichtigt die Autorin emotionale Entscheidungsfaktoren wie etwa die erste Liebe, den ersten Sex und den fehlenden familiären Rückhalt. Es sind eben diese Komponenten, die Robin gedanklich dazu nutzt, seinen Konsum vor sich selbst zu legitimieren.

Die Lesenden werden auf diese Weise im Laufe der Handlung immer mehr dazu befähigt, Robins Entscheidung für die Drogen und für das Ausklinken aus seiner akuten Lebensrealität nachzuvollziehen.

Sogar als sich der berauschte Robin am Ende versehentlich vom Hausdach stürzt und dies nur sehr knapp überlebt, empfindet man Mitleid und verurteilt Robin nicht.

Herden jedoch bleibt hart, die Chance auf Rehabilitation ist schwer.

Am Ende muss Robin schmerzlich erkennen, dass über seinen Drogenmissbrauch hinaus noch ein weiteres Problem besteht. Einen Leo hat es nie gegeben. Robin findet einen Abschiedsbrief seines besten Freundes und erkennt darauf seine eigene Handschrift. Eine schizoide Psychose unter Drogeneinfluss erklärt Leos plötzliches Auftauchen und Verschwinden. Robin beginnt sich zu erinnern.

Im Rahmen bestehender Projektarbeiten im Setting der Suchtprävention bietet Antje Herdens Roman einen optimalen Anknüpfungspunkt für Anschlusskommunikation im Deutschunterricht. Mit nur 136 Seiten kann dieser Titel sehr schnell gelesen werden und bietet eine optimale Ausgangslage zur Diskussion und Analyse der Lebensrealtität akut suchtkranker Jugendlicher, mit besonderer Berücksichtigung der psychischen Ausgangsfaktoren, die einen Abrutsch ins Drogenmilieu beschleunigen.