Buchcover Enne Koens: Ich bin Vincent und ich habe keine Angst

Vincent ist elf Jahre alt und er weiß alles über das Überleben in der Wildnis. Sein Lieblingsbuch...

Rezension von Heidi Haunerdinger

Der elfjährige Vincent sitzt alleine und in absoluter Dunkelheit im Wald. Er ist Spezialist für Survivalfragen und Überlebensstrategien und will endlich keine Angst mehr haben – keine Angst vor der Schule und seinen prügelnden Klassenkameraden. Auf der Flucht vor Dilan und Stephan wächst Vincent über sich hinaus und wehrt sich. Denn „die Jacke“, seine neue Mitschülerin steht ihm bei und zusammen sind sie stark. „Ich bin Vincent und habe keine Angst“ ist eine spannende und einfühlsame Abenteuergeschichte, die keinen Leser kalt lässt.

BuchtitelIch bin Vincent und ich habe keine Angst
AutorEnne Koens
GenreAbenteuer
Lesealter10+
Umfang188
VerlagGerstenberg
ISBN978-3-8369-5679-6
Preis15,00

Vincent ist elf Jahre alt und er weiß alles über das Überleben in der Wildnis. Sein Lieblingsbuch ist das große Survival-Handbuch, er kennt es fast auswendig. Ums Überleben geht es für ihn auch täglich in der Schule, denn er wird von den anderen schikaniert. Und nun steht die Klassenfahrt bevor. Einziger Lichtblick ist die neue Mitschülerin Jacqueline, genannt »Die Jacke«. Sie spricht vier Sprachen, surft, spielt E-Gitarre. Sie ist überhaupt ziemlich cool und sie scheint Vincent zu mögen. Auf der Klassenfahrt läuft die Situation dann völlig aus dem Ruder. Mitten in der Nacht findet sich Vincent allein im stockdunklen Wald wieder und versucht seinen Verfolgern zu entkommen.

Leseprobe:

Eines Tages werde ich mich wehren. Aber jetzt noch nicht. Wenn ich genügend Liegestütze gemacht habe, strömt Superpower in meine Arme und Beine. Dann werde ich mich umdrehen, die Hände heben wie ein Ninja, ein Bein bis zu den Schultern hochziehen und sie so fest treten, dass sie sich vorkommen wie eine Kanonenkugel. Da fliegen sie, mindestens zehn Meter durch die Luft, sie landen auf ihren dummen Köpfen, der Gehweg ist voller Blut und ich werde nur ganz laut und gemein lachen. Ich werde mich umdrehen und nach Hause rennen, das Fohlen ganz dicht hinter mir. Das Eichhörnchen, der Wurm und der kleine Käfer sind auch dabei.

Das Eichhörnchen, der Wurm und der kleine Käfer sind die imaginären Freunde von Vincent, der ein ruhiger und zurückhaltender Junge ist. Tag für Tag ist er den Schikanen seiner Klassenkameraden Dilan und Stephan ausgesetzt. Die Tiere, die nur in seiner Phantasie existieren, stehen ihm bei, die Gemeinheiten und Verletzungen zu ertragen. Und sein Survival-Kit, das er genau nach Anweisung nach dem Buch „Der große National Geographic Survival Guide“ gepackt hat, soll ihm das Überleben sichern, wenn er eine Woche auf Klassenausfahrt gehen wird. Die Frage, ob denn kein Erwachsener aus Vincent`s Umfeld die Mobbing-Attacken bemerkt, stellt sich dem*der Leser*in. Die gewählte Erzählperspektive des Ich-Erzählers Vincent beantwortet die Frage teilweise. Die nicht wirklich präsenten Eltern sind meist in der Arbeit und haben eigentlich keine Zeit für ihren Sohn. Sie sollen auf gar keinen Fall von den Bedrohungen und Verletzungen erfahren. Charlotte, eine junge Frau, die die beiden für die Aufsicht ihres Sohnes engagiert haben, ist die einzige, die über das tagtägliche Martyrium Bescheid weiß. Sie kennt Vincent genau und will ihm helfen. Doch der wiegelt immer wieder ab und beschwichtigt sie. Doch dann tritt Jaqueline in sein Leben. Sie ist die neue Mitschülerin und ganz anders. Sie will „die Jacke“ genannt werden und interessiert sich für Vincent. Sie schafft es, Vincent aus seiner Lethargie zu reißen. Er fasst Vertrauen und versucht seine Selbstzweifel zu überwinden.

Doch auf der Klassenfahrt werden Vincents schlimmste Befürchtungen wahr: Dilan und Stephan greifen ihn an, verletzen ihn und Vincent flieht in die Wildnis. Immer wieder versucht er, sich selbst zu bestärken, indem er sich gebetsmühlenartig vorsagt: “Ich bin Vincent. Ich bin elf Jahre alt. Ich bin Vincent und habe keine Angst.” Doch diese Vorsätze platzen und er hat schreckliche Angst. Seine Hoffnung, das Wissen über Überlebensstrategien aus seinem Survival-Handbuch anwenden zu können, gelingen ihm nicht. Und endlich ist er bereit, sich Hilfe zu holen, Hilfe von „die Jacke“ anzunehmen und nicht mehr auszuhalten, zu ertragen und sich von Dilan quälen zu lassen. Seine Erkenntnis, nicht anders zu sein, kommt spät, aber sie kommt.

Neben der spannenden und gleichzeitig bewegenden Geschichte sticht das Buch auch durch seine formale Gestaltung hervor: Als große Überraschung für die Leser*innen beginnt das Buch nicht wie gewöhnlich mit schwarzer Schrift auf weißem Papier, sondern genau anders herum! Durch die daraus resultierende Dominanz der schwarzen Buchseiten am Anfang wird Vincents Situation verdeutlicht: Er befindet sich in der Dunkelheit des Waldes und hat – verständlicherweise – Angst. Diese Besonderheit in der Textgestaltung machen den Leser neugierig auf den weiteren Verlauf der Erzählung. Und auch dort zeigt sich eine besondere formale Raffinesse: Nicht nur Vincent erhält Überlebenstricks aus dem Survival Guide, sondern der*die Leser*in selbst! Vor jedem Kapitel befinden sich viele wertvolle Hinweise und Tipps, die in einem Notfall für das eigene Überleben von Bedeutung werden können. Auf diese außergewöhnliche Weise werden knappe, interessante Sachinformationen mit der fiktiven Geschichte von Vincent miteinander verknüpft und machen den Roman noch lesenswerter.

Der Autorin Enne Koens ist ein beeindruckender Kinderroman gelungen, der gemobbten Kindern Mut machen kann, sich zu wehren und Vertrauen zu anderen zu fassen. Andererseits wird es auch mitlesenden Erwachsenen den Blick schärfen, auf Kinder zu achten, die im Abseits stehen und kein Aufsehen erregen wollen.

Ein absolut lesenswertes Buch, das keinen*keine Leser*in unberührt lassen wird.

„Ich bin Vincent und ich habe keine Angst“ eignet sich als Klassenlektüre, da es jede Menge Gesprächsanlass bietet und zur Stärkung der Klassengemeinschaft beitragen kann.