Rezension von Tanja Hattermann
Historischer Roman über eine jugendliche Widerstandsgruppe im Leipzig der 1930er Jahre und zugleich berührende Coming-of-Age-Geschichte: Johannes Herwigs mitreißendes Debüt besticht durch spannungsreiche Handlung, authentische Figuren und dichte Erzählatmosphäre. Das Buch bietet neben einem fesselnden Leseabenteuer auch Anlass, sich mit gesellschaftlich-politischen Entwicklungen auseinanderzusetzen.
Buchtitel | Bis die Sterne zittern |
Autor | Johannes Herwig |
Genre | Gegenwart & Zeitgeschichte |
Lesealter | 14+ |
Umfang | 256 |
Verlag | Gerstenberg |
ISBN | 978-3-8369-5955-1 |
Preis | 14,95 |
Erscheinungsjahr | 2017 |
Leipzig im Jahr 1936: Als der 16-jährige Harro, dessen bester Freund vor dem Nazi-Regime ins Ausland fliehen musste, auf der Straße von Hitlerjungen bedroht wird, steht ihm der couragierte Nachbarsjunge Heinrich mit seiner Bande tatkräftig zur Seite. Harros Neugier ist geweckt: Er freundet sich mit Heinrich an und nimmt regelmäßig an den Treffen der unkonventionell gekleideten Jungen und Mädchen teil, die für einen freien und selbstbestimmten Lebensstil eintreten. Fasziniert von deren Unerschrockenheit und forschem Auftreten in der Öffentlichkeit schließt er sich der oppositionellen Jugendclique an. Bei Zeltausflügen und Lagerfeuerrunden genießt Harro das Zugehörigkeitsgefühl zu der Gemeinschaft; außerdem verliebt er sich in Käthe, ein Mädchen aus einer verbündeten Clique. Seine unangepasste Haltung und die Verwicklung in politische Aktionen führen in der Schule wie im Alltag immer öfter zu brenzligen Situationen. Doch aller Gefahren zum Trotz lässt sich Harro von den Drangsalierungen nicht einschüchtern, sondern bezieht Position und zeigt Mut zum Widerstand. Als Harro überraschend von der Gestapo zum Verhör abgeholt wird, bekommt er im Gefängnis die ganze Härte des Regimes zu spüren. Während er nach einigen Tagen wieder freigelassen wird, bleibt sein Freund Heinrich wegen des Verdachts der Homosexualität inhaftiert.
Eine Leseprobe kann auf der Verlagsseite eingesehen werden.
Herwigs bewegender Debütroman, der mit dem „Paul-Maar-Preis für junge Talente“ der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet wurde, thematisiert mit den „Leipziger Meuten“ einen äußerst interessanten, aber bisher nahezu unerforschten Aspekt der Widerstandsbewegung im Nationalsozialismus.
Der überzeugende Spannungsbogen des Romans wird bereits im Prolog angelegt und erst im vorletzten Kapitel aufgelöst. Die erste Szene führt den Leser unmittelbar in das Gestapo-Gefängnis, wo der Protagonist während des Verhörs brutal misshandelt wird. Durch diese dramatische Einstiegsszene herrscht von Beginn an eine spannungsgeladene Atmosphäre. Zugleich wird der Leser zur Hypothesenbildung bzgl. Handlung und Figuren aufgefordert, da der Prolog offene Fragen aufwirft und der Grund für Harros Verhaftung unklar bleibt. Die folgenden 32 Kapitel schildern Harros Erlebnisse chronologisch in Form einer Rückblende. Handlungsspannung resultiert dabei vor allem aus der Figurenkonstellation (oppositionelle Jugendclique vs. Hitlerjugend) und der sich zuspitzenden Bedrohungslage für die Regimegegner.
Enttäuscht von der konformistischen Haltung seiner Eltern trifft Harro, der aus bürgerlichem Hause stammt, in der Widerstandsgruppe auf Gleichgesinnte und erlebt Freundschaft und Solidarität. Die Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu stehen zu ihren politischen und moralischen Überzeugungen und verteidigen Werte wie Freiheit, Individualität und Selbstbestimmung. Doch was zunächst harmlos mit heimlichen Treffen und einem provokanten Kleidungsstil beginnt, birgt zusehends gefährliche Situationen. Harro liest nicht nur verbotene Schriften und nimmt an politischen Aktionen teil, er wird auch vermehrt mit verbaler und körperlicher Gewalt konfrontiert und gerät in Gewissenskonflikte.
Neben einer spannenden äußeren Handlungsstruktur steht die innere Entwicklung Harros im Zentrum des Romans. Der sympathische Protagonist ist als dynamische und vielschichtige Figur gestaltet. Einerseits ist er mutig, risikobereit und abenteuerlustig. Er reflektiert über Fragen von Moral und Verantwortung und entwickelt eine (politische) Haltung. Auf der anderen Seite zeigt Harro immer wieder menschliche Schwächen und verspürt in einigen Situationen Hilflosigkeit und Überforderung. Bedingt durch das personale Erzählverhalten kann der Leser an Harros Zweifeln und inneren Konflikten unmittelbar teilhaben und seine Entwicklung begleiten. Unabhängig vom historisch-politischen Hintergrund bieten die thematisierten Prozesse des Erwachsenwerdens wie Identitätsbildung, Freundschafts- und Liebesbeziehungen den männlichen Lesern vielfältige Identifikationsmöglichkeiten sowie Anknüpfungspunkte an die eigene Lebenswelt. Zu nennen wären hier bspw. Harros Unsicherheit im Umgang mit Mädchen, das verwirrende Gefühlschaos nach dem ersten Kuss oder auch die familiären Konflikte und Diskussionen über „guten“ Umgang. Der Roman ermöglicht vielfache Lesarten, sodass nicht nur geschichtlich interessierte Leser, sondern ebenso Freunde des lustvollen Unterhaltungslesens auf ihre Kosten kommen.
Bemerkenswert, dass auch das Tableau der Nebenfiguren glaubwürdig und differenziert gezeichnet ist; allen voran wirken die jugendlichen Cliquenmitglieder sehr lebendig und überzeugen durchweg als Individuen.
Der Roman zeichnet sich durch eine leicht zugängliche, kraftvolle Sprache sowie glaubhafte Dialoge aus; auch die überschaubaren Kapitel erleichtern ungeübteren Lesern den Einstieg in die Lektüre. Der Ausschnitt eines Stadtplans lädt dazu ein, den Spuren der Protagonisten durch Leipzig zu den authentischen Schauplätzen zu folgen.
Weiterführende Informationen über die „Leipziger Meuten“ sowie den Entstehungskontext des Romans werden in einem aufschlussreichen Nachwort ergänzt.
Das Buch bietet sich aufgrund der durchgängigen Handlungsspannung und mitreißenden Erzählkonstruktion sowohl als private Lektüre für Jungen mit mittlerer Leseerfahrung als auch für freie Leseformate oder Vielleseverfahren im schulischen Kontext an.
Da sich aus dem Roman lohnenswerte Anknüpfungspunkte für den Geschichts- und Ethikunterricht ergeben, ist der Einsatz als Klassenlektüre im Rahmen eines fächerübergreifenden Projekts ebenfalls gut vorstellbar. Herwigs gleichzeitig unterhaltender und zur Reflexion herausfordernder Roman kann bei den jugendlichen Lesern Interesse an der deutschen Geschichte wecken und zu einer intensiven Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen (Freiheit, Moral, Opportunismus) anregen.