Buchcover Stefan Gemmel und Uwe Zissener: Befreiungsschlag

Der 17-jährige Maik ist bereits mehrere Male mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Seine letzte...

Rezension von Frank Münschke

Der Alltag des 17-jährigen Maik ist geprägt von Aggressivität und Ziellosigkeit. Seine letzte Chance, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, ist ein Antigewalt-Training, an dem er nur widerwillig teilnimmt und das ihm unerwartet eine neue Lebensperspektive aufzeigt. Durch die explizite Sprache und die authentische Entwicklung der Hauptfigur ist der Roman gerade auch für ungeübte Leser sehr zu empfehlen.

BuchtitelBefreiungsschlag
AutorStefan Gemmel und Uwe Zissener
GenreComing of Age
Gegenwart & Zeitgeschichte
Lesealter12+
Umfang240
VerlagArena
ISBN978-3-401-50952-5
Preis9,99
Erscheinungsjahr2017

Der 17-jährige Maik ist bereits mehrere Male mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Seine letzte Attacke auf seinen ehemaligen Mitschüler Bjarne, der Maik früher gemobbt hat, war besonders brutal. Deshalb verurteilt ihn das Gericht zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis. Die Strafe wird drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass Maik 80 Sozialstunden ableistet und regelmäßig ein Antigewalt-Training (AGT) besucht – was er nur widerwillig macht.  

An dem Kurs nehmen noch sieben weitere Jugendliche teil, die einen ähnlich problematischen Werdegang wie Maik haben. Das AGT wird von zwei erwachsenen Trainern geleitet: Uwe Katzner und Thomas Maus. Die beiden finden einen guten Zugang zu Maik, da sie ihn beispielsweise zunächst über seine Prügeleien sprechen lassen – und dabei auf Wertungen und einen erhobenen Zeigefinger verzichten. Im weiteren Verlauf übernehmen sie innerhalb der Gruppe immer wieder die Rolle von Moderatoren: Die Jugendlichen müssen etwa selbst verbindliche Verhaltensregeln aufstellen oder werden von Katzner und Maus zu einem Gespräch mit Gefängnisinsassen eingeladen.

Durch das AGT und durch den Austausch mit den beiden Trainern und den anderen Jugendlichen beginnt Maik, sich Gedanken über sein eigenes Leben und sein unmittelbares soziales Umfeld zu machen. Er übernimmt zunehmend Verantwortung für sich selbst und andere und kann sich so aus dem Teufelskreis aus Aggressivität und Antriebslosigkeit befreien.

»Du lügst doch!«
Maik blickte auf den Boden. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Vor der ganzen Klasse. Ausgerechnet hier und jetzt musste Bjarne ihn angreifen. Maiks Blick wanderte zur Tür. Wo blieb nur Frau Schmieder, die Klassenlehrerin? Sie war doch sonst schon vor dem Klingeln im Raum.
Bjarne wiederholte seine Anschuldigung: »Das ist alles gelogen, was du sagst! Ich habe Beweise. Es stimmt nämlich nicht, dass dein Großvater krank ist und ihr euch in den nächsten Wochen um ihn kümmern müsst. Ich hab deinen Opa vorgestern noch gesehen. Auf dem Fahrrad kam er aus der Schrebergartenkolonie. So wie fast jeden Tag. Und jemand, der so krank sein soll, radelt nicht durch die Stadt. Oder?«
Maik schwieg.
Aber Bjarne kam gerade erst so richtig in Fahrt: »Ich weiß auch, warum du lügst«, brüllte er durch die Klasse. »Ihr habt kein Geld für unsere Klassenfahrt. Meine Mutter ist im Förderverein der Grundschule. Und ich habe es am Telefon gehört. Deine Mutter wollte die ganzen hundertzwanzig Euro für die Klassenfahrt vom Förderverein. Aber so viel kann der Verein nicht rausrücken. Deshalb fährst du nicht mit. Stimmt’s?«
Maik hatte das Gefühl, als platze sein Kopf gleich, bei all dem Blut, das sich darin ansammelte.
Bjarne kreischte beinahe: »Stimmt es?«
»Ja«, brachte Maik hervor. »Es stimmt.«
Bjarne machte ein zufriedenes Gesicht. »Dann bist du also ein Lügner. Und du hast bestimmt nicht zum ersten Mal gelogen, oder? Neulich wurden doch Radiergummis vermisst und Lineale und Stifte und …«
Maik schrak auf: »Das war ich nicht. Ich hab nichts geklaut.«
»Hab ich was von Klauen gesagt?«, widersprach er arrogant, bevor er sich in der Klasse umblickte. »Wer von euch glaubt, dass Maik die ganzen Sachen gestohlen hat?«
Wenn sein Puls vorher schon raste, so überschlug sich jetzt alles in Maik. Angst, Panik, Wut. Mit seiner ruhigen Art war er ohnehin keiner der beliebtesten Jungs in der Klasse. Aber er war auch nicht unbeliebt – so dachte er zumindest immer. Doch jetzt …
Bevor allerdings jemand die Hand hätte heben können, öffnete sich die Klassenzimmertür und mit dem Eintreten von Frau Schmieder fand die Auseinandersetzung erst einmal ihr Ende.
Erst einmal. Denn in der folgenden Zeit kam es immer wieder zu Anschuldigungen durch Bjarne. Warum gerade er zu Bjarnes Zielscheibe geworden war, das konnte sich Maik nicht erklären, doch in den wenigen Wochen bis zu den Sommerferien hatte sich Bjarne immer wieder einen Spaß daraus gemacht, ihn vor der ganzen Klasse bloßzustellen. Es war egal, ob es darum ging, dass Maik keine Markenklamotten trug, oder darum, dass niemand seinen Vater kannte. Bjarne fand immer wieder einen Weg, Maik anzugehen.

Der Roman „Befreiungsschlag“ basiert auf einer Zusammenarbeit des Autors Stefan Gemmel mit dem Sozialarbeiter Uwe Zissener. Gemmel hat zu Recherchezwecken selbst als Zuschauer ein Jahr lang ein Antigewalt-Training begleitet.

Die Hauptfigur Maik ist kein jugendlicher Held im klassischen Sinne, aber dennoch eine Figur, mit der sich männliche Heranwachsende identifizieren können, da sie eine nachvollziehbare Entwicklung durchmacht.  Maiks Selbstbild wandelt sich zum Positiven und während er früher bei Provokationen anderer sofort mit körperlicher Gewalt reagiert hat, lernt er durch den AGT-Kurs, dass es auch andere Möglichkeiten gibt. „Befreiungsschlag“ schafft es, gerade männliche Jugendliche anzusprechen, deren Alltag von Gewalt und Antriebslosigkeit geprägt ist und die nach einem Platz im Leben suchen. Die Botschaft des Romans ist eindeutig: Du kannst es schaffen, dein Leben zu verändern. Es gibt einen Ausweg und du bist nicht allein.  Der Umstand, dass nicht alle aus der Gruppe das Training erfolgreich absolvieren und auch Maik mit Rückschlägen zu kämpfen hat, erhöht für die jugendlichen Leser den Aspekt der Glaubwürdigkeit.

Freundschaft, Loyalität und das Verhältnis von Jugendlichen zur Erwachsenen-Generation sind weitere zentrale Themen des Romas. In Jonas, der auch an dem Kurs teilnimmt, findet Maik einen neuen Freund und das Verhältnis zu seiner alleinerziehenden Mutter verbessert sich – gerade weil Maik erkennt, welche Opfer diese für ihn in den letzten Jahren bringen musste. Maik bewältigt das AGT und scheint sein Leben zusammen mit seiner Mutter und seiner Freundin Julia nun ohne Gewalt meistern zu können.

Die Geschichte hat einen auktorialen Erzähler und ist durch ihre Explizitheit und die verwendete Jugendsprache gut zu lesen. Die Szenen im AGT-Training wirken sehr realitätsnah – gerade die Dynamik zwischen den Jugendlichen wird dabei sehr treffend dargestellt. Und wenn in einer Rückblende die Geschichte erzählt wird, die Maik fast ins Gefängnis gebracht hätte, nimmt die Erzählung richtig Fahrt auf und der Leser kann Maiks Adrenalin förmlich spüren. Das Buch ist durch die Ernsthaftigkeit der Probleme und die Darstellung der Gewalt eher für Jugendliche am oberen Rand der Altersstufe 12+ geeignet.

Das Buchcover schürt – und das stellt einen kleinen Kritikpunkt dar – eine falsche Erwartungshaltung. Die Aufmachung kann einerseits als eine Referenz an ein Rap-Albumcover  interpretiert werden (Vergleich: Cover des Albums „Imperator“ von Kollegah), andererseits hat es eine gewisse Ähnlichkeit zum Titelbild der amerikanischen TV-Serie „Mr. Robot“, in deren Zentrum eine anarchistische Hackertruppe steht.

„Befreiungsschlag“ von Stefan Gemmel und Uwe Zissener ist insgesamt ein sehr empfehlenswerter Jugendroman, der authentisch die Geschichte eines Jugendlichen erzählt und durch seine direkte Sprache auch für ungeübte Leser geeignet ist.

Zu „Befreiungsschlag“ existieren bereits Unterrichtsmaterialien, die hier abgerufen werden können.

Stefan Gemmel und Uwe Zissener bieten zu „Befreiungsschlag“ und zum Thema Gewalt interaktive Veranstaltungen an. Der Mix aus Lesung und AGT-Übungen sorgt für einen intensiven, kurzweiligen Einblick in Buch und Thematik, mit einigen Impulsen zur Selbstreflexion. Weitere Informationen hierüber gibt es auf der Webseite von Stefan Gemmel.

Studierende der Universität Landau-Koblenz haben sich zudem inhaltlich mit dem Thema Gewalt in der Gesellschaft auseinandergesetzt und in einer Lehrveranstaltung einen Buch-Trailer entwickelt, der sich hier findet.