Buchcover John Boyne: So fern wie nah

Seinen fünften Geburtstag wird Alfie Summerfield niemals vergessen, denn an diesem Tag beginnt der...

Rezension von Julia Fränkle-Cholewa

Als an seinem fünftem Geburtstag der Erste Weltkrieg ausbricht und sein Vater sich freiwillig zum Kriegsdienst meldet, ändert sich Alfies Leben schlagartig. Die folgenden Jahre sind geprägt durch Hunger und harte Arbeit. Wird Alfies sehnlichster Wunsch, seinen Vater eines Tages wiederzusehen, in Erfüllung gehen? Mit „So fern wie nah“ gelingt John Boyne ein zutiefst berührender Roman über das Schicksal eines neunjährigen Jungen zu Zeiten des Ersten Weltkrieges.

BuchtitelSo fern wie nah
AutorJohn Boyne
GenreGegenwart & Zeitgeschichte
Lesealter12+
Umfang256 Seiten
Edition1. deutsche Auflage
VerlagFischer Kinder- und Jugendtaschenbuch
ISBN978-3-596-81241-7
PreisTaschenbuch 7,99 € / Hardcover 12,99 €

Seinen fünften Geburtstag wird Alfie Summerfield niemals vergessen, denn an diesem Tag beginnt der Erste Weltkrieg. Sein Vater Georgie verspricht, nicht in den Kampf zu ziehen und bricht sein Versprechen bereits am nächsten Tag. Vier Jahre lang kämpfen Alfie und seine Mutter Margie gegen Hunger und Geldnot. Doch trotz des harten Alltags gibt Alfie die Hoffnung nicht auf, seinen Vater eines Tages wiederzusehen – auch nicht, als keine Briefe mehr von der Front eintreffen. 

Während Alfie seiner Arbeit als Schuhputzer nachgeht, findet er durch Zufall heraus, dass sein Vater gar nicht mehr an der Front ist, sondern in einer Klinik für traumatisierte Soldaten behandelt wird. Heimlich und dann auch gegen den Willen seiner Mutter setzt Alfie alle Hebel in Bewegung, um seinen kranken Vater nach Hause zu holen. Doch dabei hat er nicht damit gerechnet, wie verstörend die Welt außerhalb der Klinik für Georgie ist. Beim Besuch eines Bahnhofs bricht er in Panik aus und Alfie verliert seinen Vater aus den Augen.  

„Wenigstens eine Zigarette. Dempster im Schützengraben nebenan hat eine Schachtel. Sag ihm, ich geb ihm am Dienstag zwei, wenn er mir jetzt eine leiht. Das ist ein gutes Geschäft, oder?“

Alfie nickte. Er nahm die wenigen Pennys aus seiner Mütze, die er immer hineinlegte, um Kunden anzulocken, schaute sich um und sah den Tabakladen ganz am Ende an Bahnsteig sechs. „Ich besorg dir welche“, sagte er.

„Dempster“, wiederholte Georgie.

„Ja, ich frag ihn. Eine jetzt, zwei für ihn am Dienstag. Verstanden.“ Er sah seinen Vater kurz an, unsicher, ob er ihn allein lassen konnte, aber es wäre umständlicher gewesen, ihn zum Aufstehen zu bewegen und bis ans Ende des Bahnsteigs mitzunehmen. Wenn er allein zum Tabakladen rannte, konnte er in knapp zwei Minuten wieder zurück sein.

„Bleib, wo du bist“, sagte Alfie entschieden. „Hast du mich verstanden, Papa? Bleib, wo du bist.“

„Und dann los“, murmelte Georgie, eine Wendung, die er ständig wiederholte.

„Was meinst du damit?“, fragte Alfie und kniete sich vor ihn hin. „Was bedeutet das?“

„Der Feldwebel“, sagte Georgie und starrte auf den Boden. „Das hat er jeden Abend gesagt, bevor wir aus den Schützengräben geklettert sind. Wir mussten uns an den Leitern aufstellen. Eine Reihe von Männern, deren Köpfe fast auf einer Ebene mit dem Boden abschlossen. Die nächsten Männer ein paar Sprossen tiefer, bereit nachzurücken. Und die nächste Gruppe unten im Graben, bereit, die Füße auf die Leiter zu setzen. Wir mussten warten, bis die anderen Reihen oben waren, dann kamen wir dran. Wir rührten uns nicht, bis die Männer vor uns im Rauch und Geschützfeuer verschwunden waren. Bleib, wo du bist, und dann los. Jede Nacht. Jede Nacht, Alfie.“

Er presste die Hände wieder an die Schläfen und stieß einen leisen Schmerzensschrei aus, wie ein Tier in einer Falle.

(Seite 223-224)

Bereits mit „Der Junge im gestreiften Pyjama“ landete der Autor John Boyne einen Weltbestseller. „So fern wie nah“ knüpft an diesen Erfolg an und wurde mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis ausgezeichnet. 

John Boyne, der „Meister der Empathie“ (Cornelia Geißler in: Berliner Zeitung, 2.4.2014), erzählt in „So fern wie nah“ durch die Stimme des Ich-Erzählers Alfie die berührende Geschichte eines neunjährigen Jungen und dessen Familie vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges. 

Von der ersten Seite an fällt es dem Leser leicht, sich mit Alfie durch dessen Geschichte zu bewegen. Angefangen bei seinem fünften Geburtstag erlebt der Leser gemeinsam mit Alfie alle Höhen und Tiefen seiner Kindheit. Einer Kindheit, die durch Existenzängste und den Verlust des eigenen Vaters geprägt ist. Doch trotz aller Schicksalsschläge bewahrt Alfie sich seine lebensbejahende Art und die Hoffnung, sein Vater möge eines Tages aus dem Krieg zurückkehren. 

Der neunjährige Junge wirkt an manchen Stellen sehr reif für sein Alter, was der Verantwortung geschuldet sein mag, die auf seinen Schultern ruht. Dadurch erscheint der Protagonist als Vorbildfigur, ohne idealisiert oder belehrend zu wirken. Vielmehr wird Alfie durch äußere Umstände ungewollt zu einem kleinen Helden, dem es letztlich sogar gelingt, den eigenen Vater aus der verhassten Klinik zu befreien und ihn nach Hause zu holen.

Durch die achronologische Schilderung der Ereignisse baut sich im Roman kontinuierlich Spannung auf, wobei die Rückblenden auf Alfies junge Kinderjahre fügen sich nahtlos in die Erzählung des Neunjährigen einfügen.  

Die Schrecken des Ersten Weltkrieges schildert Boyne in seinem Roman einerseits eindringlich, andererseits auch so beiläufig, dass das Buch an keiner Stelle wie eine überstilisierte Anklage wirkt. Vielmehr beschreibt der Autor das Leiden der einfachen Bevölkerung und übt durch die Stimmen der unterschiedlichen Figuren eine immanente Kritik an jenen, die den Krieg befürworteten und vorantrieben. Insbesondere durch Joe, einen Kriegsverweigerer, der in Alfies Straße lebt, lernt der Junge die Negativseiten des Krieges kennen und beginnt zu verstehen, was mit jenen geschieht, die scheinbar die Treue zum Vaterland verletzen. Durch vielfältige Figurenstimmen gelingt es Boyne, dem jungen Leser einen differenzierten Blick auf die Zeit der Kriegsjahre nahezubringen.

Neben der Thematik des Ersten Weltkrieges beleuchtet „So fern wie nah“ auch die Beziehung eines Jungen zu seinen Eltern. Während Alfie seinen Vater bewundert und bereit ist, große Risiken auf sich zu nehmen, um ihn in der Klinik zu besuchen, ist das Verhältnis zu seiner Mutter ein komplizierter. Denn Alfie versteht zunächst nicht, weshalb Margie die Briefe des Vaters versteckt und sich davor fürchtet, Alfie könne herausfinden, was es mit der Krankheit seines Vaters auf sich hat.

Der Vater Georgie leidet am sogenannten „Granatenschock“, einer posttraumatischen Belastungsstörung, die zu Zeiten des Ersten Weltkrieges oftmals nicht als solche Störung erkannt wurde. Wie bei vielen Soldaten dieser Zeit lösen laute Geräusche auch bei Georgie unkontrollierbare Panikattacken aus. Dies führt dazu, dass Alfie seinen Vater bei einem Besuch am Bahnhof verliert. Erst als dies geschieht, begreift der Junge, dass er seinem Vater vielleicht niemals beim Gesundwerden wird helfen können. 

„So fern wie nah“ eignet sich insbesondere für junge, männliche Leser, die hier einer authentischen männlichen Kinderfigur begegnen. Obwohl das Buch in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts spielt, wirkt Alfie wie ein ganz normaler Junge unserer Zeit.  Der Protagonist und seine Perspektive laden zu Identifikation und Perspektivenübernahme ein. Als Geschichte über den Krieg befriedigt das Buch außerdem informatorische Bedürfnisse im Sinne des beiläufigen Erwerbs von Weltwissen. Ebenso können sich durch die packende und gleichsam einfühlsam erzählte Handlung aber auch Leser mit geringem geschichtlichem Interesse angesprochen fühlen.

Mit insgesamt 256 Seiten und einer durchschnittlichen Kapitellänge von 18 Seiten ist das Buch bereits für mittelmäßig geübte Leser überschaubar. Die Ich-Perspektive Alfies und die verständliche, klare Sprache tragen darüber hinaus zu einem einfachen Leseverstehen bei. Das vergleichsweise schlichte Cover zeigt ein Mohnfeld und ein Flugzeug, welches seine Kreise am bewölkten Himmel zieht und greift damit die melancholische Grundstimmung der Kriegsjahre auf. 

Durch die thematische Fokussierung des Ersten Weltkrieges und dessen Folgen für Soldaten und Bevölkerung eignet sich „So fern wie nah“ insbesondere auch als Lektüre fächerübergreifender Unterrichtsvorhaben.