Buchcover Dirk Wittenborn: Unter Wilden

Finn ist 15 Jahre alt und lebt mit seiner 33-jährigen Mutter Elizabeth in New York. Elizabeth hat...

Rezension von Lisa Wettlaufer

Finn ist 15 Jahre alt und lebt mit seiner 33-jährigen Mutter Elizabeth in New York. Elizabeth hat ein Problem mit Drogen, aber dafür kein Problem damit, eine Affäre nach der nächsten zu haben. Finns Eltern leben nicht zusammen. Sein Vater ist ein angesehener Wissenschaftler, der in Südamerika das Leben von „Wilden“ erforscht. Der Traum, seinen Vater endlich kennenzulernen und mit ihm ins Amazonasgebiet zu reisen, zerplatzt für Finn, als er mit seiner Mutter New York überstürzt verlassen muss...

BuchtitelUnter Wilden
AutorDirk Wittenborn
GenreComing of Age
Umfang414 Seiten
Edition2003
VerlagDuMont
ISBN978-3-8321-7822-8
Preis22,90 € (gebundene Ausgabe)

Finn ist 15 Jahre alt und lebt mit seiner 33-jährigen Mutter Elizabeth in New York. Elizabeth hat ein Problem mit Drogen, aber dafür kein Problem damit, eine Affäre nach der nächsten zu haben. Finns Eltern leben nicht zusammen. Sein Vater ist ein angesehener Wissenschaftler, der in Südamerika das Leben von „Wilden“ erforscht. Der Traum, seinen Vater endlich kennenzulernen und mit ihm ins Amazonasgebiet zu reisen, zerplatzt für Finn, als er mit seiner Mutter New York überstürzt verlassen muss.
Er findet sich in einer ihm bis dahin unbekannten Welt der Superreichen wieder. Finn lernt neue Freunde und Bekannte kennen und verliebt sich in aufgeschlossene Maya Langley. Sie ist die Enkelin des reichen Mr. Osborne, für den Finns Mutter jetzt arbeitet. Plötzlich scheinen Finn und seine Mutter, ein glückliches Leben frei von Drogenproblemen und Geldsorgen führen zu können. Doch bald schon merkt Finn, dass er und seine Mutter nicht Teil dieser Welt sind. Die beiden müssen sich immer wieder verstellen, um im Kreise ihrer reichen Bekannten nicht negativ aufzufallen. Und dann tauchen in Finns neuem Leben völlig unerwartete Schwierigkeiten von brutalem Ausmaß auf, wodurch er diese schöne, neue Welt zu hinterfragen beginnt. Dabei deckt er ein ziemlich absurdes Geheimnis auf.

Eine geschlagene Stunde lag ich angezogen im Bett, dann schlich ich mich die Hintertreppe runter und lief über den Rasen in die Nacht hinaus. Ich hatte immer noch Bryce’ Jackett an. Es war so kalt, dass ichs kaum fassen konnte und wünschte, ich hätte einen Pullover angezogen. Im Laufen fragte ich mich, ob mich Maya wohl nackt oder in BH und Höschen erwartete. Letzteres sagte mir mehr zu. Die Erektion in meinen Jeans und die frisch gepflügten Furchen des Ackers, den ich als Abkürzung benutzte, machten es mir schwer, richtig schnell zu rennen. In Bryce’ Jackett und den abnehmenden Mond im Rücken dachte ich grade, was für einen langen, eleganten Schatten ich doch auf die aufgewühlte Erde warf, da traf mich was am Hinterkopf.
Der Schlag kam so heftig, so unerwartet, dass ich, noch ehe ich den Schmerz spürte, der Länge nach in den Dreck fiel. Ich befand mit mitten auf einem Acker. Es war, als wäre irgendwas vom Himmel gefallen, direkt auf mich. Ich legte die Hand an den Hinterkopf; ich blutete. Blut quoll mir zwischen den Fingern hindurch, und mein Herz raste. Ich nahm grade die Hand von der Wunde, die mir regelrecht den Schädel in Brand setzte, da stülpte mir jemand den Futtersack über den Kopf. Dann setzten die Tritte ein. Einmal, zweimal, erst in die eine Seite, dann in die andere. Als ich anfing zu schreien und versuchte, mir den Sack vom Gesicht zu ziehen, traf mich ein Stiefel im Genick. Ich kriegte Erde in den Hals und begann zu würgen. Das letzte, was ich mitbekam, war, dass jemand sich auf meinen Rücken kniete und mir das Gesicht in die Erde stieß.
(S. 244)

Der Ich-Erzähler in seiner Welt
Finn weiß, dass er nicht zu der Welt der Reichen gehört, und macht sich innerlich lustig darüber, wie seine Mutter versucht, sich dem Lebensstil der reichen Menschen um sie herum anzupassen. Er gibt sich zwar Mühe, die Lebensgewohnheiten und damit den Lebensentwurf der anderen ein Stück weit anzunehmen, letztendlich ist er aber doch der arme Junge aus New York, der sich einen Job suchen muss, um ein bisschen Geld verdienen zu können.
Finn weiß ebenfalls genau, wie er seine Mutter und die übrigen Erwachsenen manipulieren kann, indem er ihnen erzählt, was sie hören wollen. Auch sein Kommunikationsverhalten gegenüber seinen neuen, reichen Freunden ist geprägt von dem Wunsch, cool zu sein und sich nicht anmerken zu lassen, dass er bei weitem nicht so mutig ist, wie er tut. Auf diese Weise ist er gezwungen, viel zu lügen und vor allem seine Mutter oft zu hintergehen. Solidarität empfindet Finn hauptsächlich mit den Erwachsenen und Jugendlichen, die, wie er, nicht reich sind und arbeiten müssen, um sich ihren Lebensunterhalt und ihre Träume finanzieren zu können.

Verstehen durch Erzählen
Finns mentale Ausgangslage ist geprägt von dem Wissen, dass er sich auf Erwachsene in der Regel nicht verlassen kann und dass man unangenehmen Situationen mit kleinen oder größeren Lügen entkommen kann. Unsicherheit und mangelndes Selbstbewusstsein beschäftigen ihn immer wieder.
Dem 15-jährigen Finn fehlt es manchmal an kritischer Selbstwahrnehmung, was aber dadurch, dass die Geschichte rückblickend erzählt wird, ausgeglichen und dementsprechend kommentiert wird: „‚Ich bin auf einen Blechbüchse gefallen.’ Beim zweiten Mal klang meine Auskunft noch weniger glaubwürdig.“ (S. 107). Finn wirkt durch diese Kommentare menschlicher, was es leichter macht, sich mit ihm zu solidarisieren und zu identifizieren.
Finn versteht und erfasst seine eigenen Lebensumstände und die Welt, in der er sich plötzlich befindet, relativ klar. Nicht selten liegt seiner Erzählweise ein sarkastischer Unterton zugrunde, besonders, wenn es um die affektierten Verhaltensweisen seiner Mutter und der reichen Erwachsenen um ihn herum geht. Dadurch, dass die Geschichte aus der Rückschau erzählt wird, kann Finn seine eigenen Handlungen und die Handlungen der anderen mit anderen Augen sehen und dementsprechend kommentieren.

Buchcharakter
Das Cover der deutschen Übersetzung ist rot und zeigt in der Mitte einen Jungen, bei dem es sich um Finn handeln könnte. Der Junge schwingt sich - wie ein „Wilder“ - oberkörperfrei an einem Seil hin und her, wobei sein Gesicht nicht zu erkennen ist. Am unteren Rand des Covers sieht man hohe Wolkenkratzer, die an New York erinnern und vor denen zwei US-amerikanische Flaggen wehen.
Die Kapitellänge variiert sehr stark. Es gibt Kapitel, die nur wenige Seiten lang sind, andere erstrecken sich über fast 20 Seiten. Es gibt aber auch in jedem längeren Kapitel Absätze, die eine Lesepause ermöglichen.
Die sprachliche Komplexität des Romans ist relativ einfach, erzeugt durch verhältnismäßig kurze Sätze und eine am alltäglichen Sprachgebrauch orientierte Wortwahl. In vielen Dialogen wird hauptsächlich Umgangssprache mit typisch mündlichen Auslassungen verwendet. Wittenborns Roman ist gut zu verstehen ist und lässt sich flüssig lesen. Lange Erzählungen, die sich über mehrere Seiten erstrecken, kommen nicht vor, sondern werden durch Dialoge unterbrochen, sodass in der Erzählung eine gewisse Dynamik entsteht.

Zusammenfassende Bewertung und Fazit:
Dirk Wittenborn gelingt mit „Unter Wilden“ ein spannender Roman über das Leben und die Probleme eines 15-jährigen Jungen, der in einer neuen Welt viele verschiedene, mitunter brutale Erlebnisse hat und einem bizarren Geheimnis auf die Spur kommt. Es ist eben nicht alles Gold, was glänzt und die Fassaden, hinter denen manche Menschen sich verstecken, sind eben doch nur Fassaden und diese Menschen längst nicht das, was sie zu sein vorgeben. Daher ist es nicht leicht, zu erkennen, wem man sein Vertrauen schenken kann und wem nicht. Das ist es, was Finn im Verlauf des Romans lernt, genauso wie, dass es ab und zu nicht schaden kann, die Wahrzeit zu sagen. Dirk Wittenborn hütet sich jedoch davor, die Moralkeule zu schwingen, sondern gesteht seinem Protagonisten zu, Fehler zu begehen und aus diesen zu lernen, was Finn sympathisch macht. Im Verlauf des Romans lernt man zwei gänzlich verschiedene Welten der USA Ende der 1970er Jahre mit ihren Vor- und Nachteilen kennen. „Unter Wilden“ lässt sich angenehm lesen und ist dabei nie langweilig.

Der Roman ist für individuelle Heim- oder schulische Gruppenlektüre ab Klasse 10 (in Auszügen) geeignet. Er bietet zahlreiche Themenkomplexe, wie z.B. schichtspezifische Zugehörigkeiten und Verhaltensweisen, Drogenmissbrauch, (sexuelle) Gewaltanwendungen, Freundschaft/Liebe und Familie bzw. das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern.