Buchcover Chris Priestley: Mister Creecher

In London im Jahre 1818 kämpft der 15-jährige Straßenjunge und Taschendieb Billy um sein tägliches...

Rezension von Julia Hoydis

In London im Jahre 1818 kämpft der 15-jährige Straßenjunge und Taschendieb Billy um sein tägliches Überleben. Insbesondere muss er sich vor Fletcher und seiner üblen Gang in Acht nehmen. Eines Nachts stößt Billy auf eine riesengroße Leiche, die keine ist und zum Leben erwacht, als er sie ausrauben will. So macht er die Bekanntschaft mit dem seltsamen, aber durchaus höflichen Mister Creecher. Der ist jedoch nicht wirklich ein Gentleman, sondern eine furchterregende Kreatur, bei deren Anblick es jedem kalt den Rücken herunterläuft.

BuchtitelMister Creecher
AutorChris Priestley (aus dem Englischen übersetzt von Beatrice Howeg)
GenreHorror & Grusel
Lesealter12+
Umfang416 Seiten
Edition1 (2013)
VerlagBloomoon
ISBN978-3-7607-9928-5
Preis16,99 €

In London im Jahre 1818 kämpft der 15-jährige Straßenjunge und Taschendieb Billy um sein tägliches Überleben. Insbesondere muss er sich vor Fletcher und seiner üblen Gang in Acht nehmen. Eines Nachts stößt Billy auf eine riesengroße Leiche, die keine ist und zum Leben erwacht, als er sie ausrauben will. So macht er die Bekanntschaft mit dem seltsamen, aber durchaus höflichen Mister Creecher. Der ist jedoch nicht wirklich ein Gentleman, sondern eine furchterregende Kreatur, bei deren Anblick es jedem kalt den Rücken herunterläuft. Um dem gefährlichen Leben auf der Straße eine Zeit lang zu entkommen und aus Dankbarkeit dafür, dass Mister Creecher ihn vor Fletchers Gang gerettet hat, willigt Billy ein, ihm bei der Suche nach Viktor Frankenstein und dessen Gefährten Clerval zu helfen.

Er begleitet Creecher auf der Reise von London in den Norden und wird immer weiter in die mysteriöse Geschichte um Doktor Frankenstein hineingezogen. Dieser hatte Creecher einst erschaffen und ihm eine Braut versprochen, dieses Versprechen jedoch nie eingelöst. Der einsame Mister Creecher ist entschlossen, den Doktor nun zu seinem Wort zu zwingen. Zwischen Billy und Creecher entwickelt sich eine ungewöhnliche, aber tiefe Freundschaft. Trotzdem kämpft der Junge auch mit Furcht und Abscheu der un-menschlichen Kreatur gegenüber. Irgendwo hinter Oxford trifft Billy auf Jane, in die er sich verliebt und überlegt, in der Gegend zu bleiben. Zunächst gerät er jedoch in die Arme von Viktor Frankenstein, der ihm erzählt, dass Creecher ein Kindermörder ist. Es kommt zum Bruch zwischen Billy und Creecher, der die Reise allein fortsetzt. Dann stirbt Jane plötzlich und Billy bleibt traurig zurück. Schließlich macht er sich auf den Heimweg nach London, da ihn nach der Geschichte mit Mister Creecher so schnell nichts mehr erschrecken kann.

Als Taschendieb war es schwer. An manchen Tagen gelang Billy nicht ein Fang. Und dann hatte Creecher natürlich auch recht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man ihn erwischte. Jeder wurde irgendwann einmal geschnappt. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis er Skinner und dem Rest von Fletchers alten Kumpanen über den weg lief. Billy könnte sich vielleicht eine Weile aus Problemen herausreden und vorgeben, der Riese wäre noch in London, aber das würde auch nicht ewig gehen.

Je länger er nachdachte, desto langsamer wurden seine Schritte. Creecher hatte recht – er hatte Angst, London zu verlassen. Es war das Unbekannte, das er am meisten fürchtete. Er wog seine Angst vor Skinner gegen seine Angst, London zu verlassen, und merkte, je länger er überlegte, dass es ihm gar nicht mehr um Angst ging.

Er merkte, dass er tatsächlich mich Creecher gehen wollte. Er wusste nicht, wohin das Ganze führen würde, aber er wusste, dass er es herausbekommen musste; dass er noch nicht bereit war, Creecher einfach so ziehen zu lassen.

Sobald er in seinem Zimmern am Soho Square angekommen war, packte Billy seine Tasche, beglich bei dem Hauswirt die Rechnung und ging schnellen Schrittes zurück zur Bäckerei. Als er durch das Dachbodenfenster kletterte, saß der Riese genauso da, wie er ihn verlassen hatte, als hätte er auf Billy gewartet.

(S. 154f.)

"Mister Creecher" von Chris Priestley ist ein überaus bewegendes und gruseliges Buch, das beindruckend nahe an Mary Shelleys Original "Frankenstein" von 1818 angelehnt ist. Es erzählt eine spannende Geschichte über eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen zwei Außenseitern und ist gleichzeitig eine Hommage an das vielleicht berühmteste Monster der Literatur- und Filmgeschichte.

Aufgrund der Länge von gut 400 Seiten und der Sprache ist der Roman für schon etwas erfahrenere jugendlich-männliche Leser gut geeignet. Auch findet sich nicht auf jeder Seite Horror und Action, trotzdem gibt es einen durchgehenden Spannungsbogen und viele überraschende, gruselige und auch humorvolle Momente. Durch die auktoriale, beobachtende Erzählperspektive erhält der Leser Distanz zu den Ereignissen, gleichzeitig ermöglichen die viele Dialoge und Einblicke in Billys Gedanken Identifikation mit dem Protagonisten. Billys Existenz ist von Anfang an durch seine Lebensumstände auf der Straße bedroht; die Freundschaft zu dem unmenschlich starken Mister Creecher gibt ihm zunächst mehr Schutz und Sicherheit. Erst nach und nach setzt sich Billy mit der gruseligen Monstrosität von Creecher auseinander. Eine Stärke der Erzählung liegt darin, wie die Ambivalenz von Billys Gefühlen für das Monster geschildert wird. Er verspürt Sympathie für dessen Einsamkeit und ständige Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Bestenfalls wird Mister Creecher als Rarität in „Brownings Monstrositätenschau“, mit der die beiden eine Zeitlang reisen, bestaunt; schlimmstenfalls wird er aus Furcht und Ekel beschimpft und vertrieben. Billy gerät zwischen die Fronten von Doktor Frankenstein und seiner Kreatur und weiß schließlich nicht mehr, wer das eigentliche Opfer in dieser unglücklichen und schauerlichen Geschichte ist. Der vielleicht gruseligste Moment findet sich gegen Ende des Buches, wenn Billy in einer Szene auf dem Friedhof mit dem Gedanken kämpft, dass Creecher und Frankenstein Janes Grab geschändet und ihr das Herz aus dem Leib gerissen haben.

Charakteristisch für eine Horrorgeschichte für jugendliche Leser wird der Horror final nicht komplett beseitigt oder aufgelöst. Die Geschichte endet mit dem temporären Verschwinden, aber nicht mit dem Tod von Frankensteins Monster. Es ist dazu ein relativ offenes Ende. Billy muss mit dem Tod von Jane und dem Verlust seiner Freundschaft zu Creecher klarkommen. Trotzdem ist Billy nicht mehr derselbe unsichere Jungen vom Anfang der Geschichte, der keinen anderen Ausweg sieht, als sein Dasein als Taschendieb zu fristen und sich vor Fletchers Gang zu verstecken. Der Leser bleibt mit dem Gefühl zurück, das sich Billy, genau wie Mister Creecher, schon irgendwie allein durchschlagen wird.

Der Roman ist in drei Teile und 44 Kapitel von jeweils max. 10 Seiten untergliedert. Trotz der historischen und literarischen Bezüge und einiger Rückblenden, da der Leser erst nach und nach die Geschichte von Frankenstein und Creecher erfährt, ist die Handlung gut nachzuvollziehen. Durch die Augen von Billy lernt der Leser einen großen Teil von Mary Shelleys "Frankenstein" kennen. Die Erzählungen von Mister Creecher lassen die Handlung des Originaltexts erahnen und machen neugierig darauf, Shelleys großartige Gruselgeschichte über wissenschaftliche Experimente, Einsamkeit, Freundschaft, und scheinbar unentrinnbares Schicksal (neu) kennenzulernen. Tatsächlich treten Mary Shelley und ihr Mann, der Dichter Percy Bysshe Shelley, auch als Nebenfiguren im Buch auf. Chris Priestley fügt an seiner Geschichte ein Nachwort mit  “Inspirationen, Quellen und Hintergründen” über Shelleys "Frankenstein" in der Literatur- und Filmgeschichte an. Tatsächlich ist es jedoch überhaupt nicht zwingend, dass der Leser das Original, oder andere Adaptionen kennt, da Priestleys eine völlig eigenständige, spannende Fassung der Geschichte vorlegt, die sich insbesondere durch das überraschende Ende unterscheidet. "Mister Creecher" macht dennoch sicher einigen Lesern Lust, sich näher mit Frankenstein oder sonstigen Monstern zu beschäftigen.

Das Cover ist dem Genre entsprechend klassisch düster und ansprechend gruselig gestaltet. Man sieht Frankensteins Monster nur als Silhouette im Mondschein; ein Junge rennt panisch vor ihm davon. Gleichzeitig ist die Körperhaltung des Monsters eher passiv, es steht unbeweglich mit herunterhängenden Armen da. So wird bereits auf dem Cover die zentrale Frage gestellt, wie böse die Schreckensgestalt tatsächlich sein
mag.

Die Webseite des Autors bietet viele Materialien, Filmklips, Interviews zum Thema Horror und Grusel und Priestleys Büchern, allerdings nur in englischer Sprache. (www.chrispriestleybooks.com/mister-creecher)

Insbesondere durch die detailgetreue Umsetzung der Handlung sowie der Atmosphäre und Stils von Mary Shelleys Originaltext und das ausführliche Nachwort und die Literaturhinweise eignet sich "Mister Creecher" auch für Unterrichtsprojekte zu "Frankenstein" und bildet Medienkompetenz aus. Es bieten sich Diskussionen über den historischen Kontext, die Bezüge zwischen Original und Adaption, und natürlich, den Umgang mit Andersartigkeit und die Grenzen der menschlichen Natur an.

Im Rahmen des Hauptseminars "Leseanimation für Jungen" haben vier Lehramtsstudierende der Universität zu Köln zu Gruselgeschichten wie "Mister Creecher" das Leseförderprojekt "Die Gruselnacht" entwickelt. Das Portfolio zum Projekt finden Sie hier.