Buchcover Regina Dürig: Katertag – Oder: Was sagt der Knopf bei Nacht?

Der Ich-Erzähler Nico ist fünfzehn, als sein Vater arbeitslos wird und anfängt, immer mehr zu...

Rezension von Elena Waldmann

Der Ich-Erzähler Nico ist fünfzehn, als sein Vater arbeitslos wird und anfängt, immer mehr zu trinken, bis er schließlich in die Alkoholsucht abrutscht. Als er nach zwei Jahren endlich einen Entzug in einer Klinik anfängt, beschließt Nico, ihm statt eines Besuchs einen Brief dorthin zu schreiben, in dem er die Erlebnisse und seine Gefühle während des Alkoholismus seines Vaters schildert. In dieser turbulenten Zeit kommt es vor allem für die Hauptperson zu einer Reihe von Konflikten...

BuchtitelKatertag – Oder: Was sagt der Knopf bei Nacht?
AutorRegina Dürig
GenreGegenwart & Zeitgeschichte
Lesealter14+
Umfang112 Seiten
Edition2011
VerlagChicken House (Carlsen Verlag)
ISBN3-5515-2034-8
Preis9,95 € (gebunden)

Der Ich-Erzähler Nico ist fünfzehn, als sein Vater arbeitslos wird und anfängt, immer mehr zu trinken, bis er schließlich in die Alkoholsucht abrutscht. Als er nach zwei Jahren endlich einen Entzug in einer Klinik anfängt, beschließt Nico, ihm statt eines Besuchs einen Brief dorthin zu schreiben, in dem er die Erlebnisse und seine Gefühle während des Alkoholismus seines Vaters schildert. In dieser turbulenten Zeit kommt es vor allem für die Hauptperson zu einer Reihe von Konflikten, von denen besonders die Blamage Nicos vor seiner ersten Liebe durch den betrunkenen Vater und dessen gefährliche Autofahrt mit den Kindern unter Alkoholeinfluss schockieren. Bis der Vater Nico am Ende einen Brief zurückschreibt, ist es ein langer Weg durch viele Höhen und Tiefen, die die Familie meistern muss und dabei doch nie die Hoffnung aufgibt.

Ich will, dass du weißt, was ich vergessen muss. Damit alles wieder
gut werden kann, oder zumindest mal normal. Ich bin mir
nicht sicher, ob das geht. Aber wenn es einen Weg gibt, dann
nur diesen hier.

Gestern Abend habe ich mit Mim auf der Terrasse gesessen,
Sasa war schon ins Bett gegangen. Mim hat mit der Gabel
Muster in den Salatsoßenrest auf ihrem Teller gezeichnet. Ich
weiß, dass es sie traurig macht, wenn ich dich nicht besuchen
komme. Aber sie kann mich auch nicht zwingen. An der Hauswand
ist ein Igel vorbeigelaufen.
»Ich kann nichts machen«, habe ich irgendwann gesagt.
»Man kann immer was machen«, hat Mim geantwortet.
Dann war es lange still.
»Fragst du dich nicht manchmal, ob er uns wieder verarscht?
Ob nicht alles wieder von vorne anfängt, wenn er aus der Klinik
raus ist?«, habe ich Mim gefragt, obwohl ich es eigentlich
nur hatte denken wollen. So etwas würde ich normalerweise
nur zu Sasa sagen.

»Nein«, hat Mim ganz ruhig geantwortet. Dieses Nein hat
alles eingeschlossen, alles, was über große Gefühle und Familie
hätte gesagt werden können.
»Ich kann das nicht«, habe ich gesagt. Ich hatte es nur flüstern
können, weil ich vor lauter Selbstmitleid einen Kloß im
Hals hatte. Der Igel, der irgendwo im Beet eine Häuschenschnecke
gekaut hat, ist lauter gewesen als ich.
»Nein, Nico«, hat Mim gesagt und diesmal war klar, dass sie
weitersprechen würde, »du willst ihm nicht glauben. Ich weiß,
es war schlimm. Das war es für uns alle. Aber Rumtrotzen ist
nicht fair, damit erreichst du nichts. Das, was Papa passiert ist,
hätte jedem von uns passieren können. Und ich würde jeden
genauso verteidigen.« Mim hatte sich beim Sprechen aufgesetzt.
Sie hat mich angeschaut und erwartet, dass ich antworte.
Weil ich nichts gesagt habe, ist sie aufgestanden und in ihre
Flipflops geschlüpft.
»Gute Nacht, Nico«, hat sie gesagt und ist nach drinnen gegangen.
Erst hat sie aus Versehen die Terrassentür hinter sich
zugemacht. Dann hat sie sich daran erinnert, dass ich noch
draußen bin, ist zurückgekommen und hat den Griff wieder
nach oben gedreht. Das Licht im Wohnzimmer hat sie ausgemacht.

Nein, habe ich gedacht, während ich auf der Terrasse gesessen
und dem Igel zugehört habe, Sasa und mir hätte das nicht
passieren können, ganz einfach weil uns niemand billigen Fusel
oder sonst irgendwelchen Alkohol verkaufen würde. Und
Mim hat erstens keine Ahnung, was genau passiert ist, und
zweitens wäre sie nie total besoffen Auto gefahren und schon
gar nicht, wenn Sasa und ich dringesessen hätten. Sie hätte
sich auch Nele gegenüber ganz normal und freundlich verhalten.
Sie hätte nichts ruiniert. Mim hätte niemals alles kaputtgemacht.
(S. 7-9)

„Ich will, dass du weißt, was ich vergessen muss“. So beginnt Nicos anredeloser Brief. Über Geschehnisse in einer Zeitspanne von rund zwei Jahren wird er seinem Vater schreiben, angefangen mit der schleichenden, aber sicheren Verwandlung des Vaters in den „Eunk“ („Papa hat nicht mehr gepasst“), als dieser seinen Job im Architekturbüro verliert und nicht damit klar kommt, dass seine Frau ihre Arbeit erfolgreich wieder aufnimmt, bis hin zur tragischen „Geschichte mit Nele“ und den lebensbedrohlichen Disneyland-Ausflug, der „alles kaputt“ macht.

Nico ist ein unauffälliger, eher einzelgängerischer Jugendlicher, der sich, wie in seinem Alter üblich, für Mädchen interessiert und bis zur Alkoholabhängigkeit seines Vaters ein geregeltes Familienleben führt, zu dem außer seiner Mutter noch seine dreizehnjährige Schwester Sasa gehören, zu denen er ein gutes Verhältnis hat. Nicos Welt wird jedoch eine andere, als sich der Vater immer mehr verändert und Nico sich am Ende nicht mehr anders zu helfen weiß, als zur „Waffe“ des Stifts zu greifen, um die Herausforderung Alkoholismus in Form eines Briefs an den Vater zu verarbeiten. Dabei kommt ihm seine Schreibbegabung zugute, die zusammen mit seiner stellenweise ironisch-sarkastischen Art seinen ernsten, für sein Alter durchaus reifen Charakter ausmacht.

Nico agiert während dieser Zeit als starke Persönlichkeit, die das Mittel der Worte für sich nutzt, um die Erlebnisse unverhüllt zu schildern, und eben nicht an ihnen zu Grunde geht, sondern auch an ihnen wächst. Dabei wirkt der Protagonist nicht altklug oder heroisch – dazu ist oft genug zu spüren, dass er unter der Situation leidet – sondern wie ein Jugendlicher seines Alters, der zwar gefühlvoll, aber nicht wehleidig die Problematik Alkoholismus verarbeitet. Zwar klagt er den Vater an, gibt ihm aber gleichzeitig auch eine Chance, den „Eunk“ „kennen zu lernen“, wofür er den Respekt des Lesers verdient.

„Katertag“ lässt sich vorrangig als „familieninterne“ Geschichte lesen, zu der außer – ungewollt – seiner Klassenkameradin Nele niemand Zutritt hat und haben darf. So gut es geht versucht Nico nichts vom Alkoholismus des Vaters nach außen dringen zu lassen und findet in seiner Schwester eine enge Vertraute, mit der er sich über die Vorfälle aussprechen kann, wenn der „Eunk“ wieder einmal betrunken ist und sich ausfällig verhält. Zusammen mit Sasa, die dem Vater viel mehr verzeiht und noch mehr in Schutz nimmt als er, verbringt Nico viel Zeit, in der die Geschwister sich gegenseitig Halt geben.

Die eingangs erwähnten Episoden die „Geschichte mit Nele“ und der Disneyland-Ausflug bilden die zwei stärksten und einschneidenden Konflikte des Romans. In der direkten Beschreibung des einen Nachmittags, an dem Nele bei Nico zu Besuch ist, es zu einer ersten sexuellen Annäherung der beiden kommt und der betrunkene, unerwartet erscheinende Vater seinen Sohn schamlos bloßstellt und Nele regelrecht verschreckt, schildert „Katertag“ zugleich schonungslos und gefühlvoll die Problematik. Hier wird deutlich, dass Nico, der äußerlich wie innerlich sehr viel Ähnlichkeit mit seinem Vater besitzt und dementsprechend von ihm geprägt wurde, sich sehr dafür schämt, so wie er zu sein, da der „Eunk“ ihn abstößt, schockiert, ängstigt und wütend zugleich macht.

Dies wird auch im Abschnitt über den Disneyland-Ausflug deutlich, in dem Nico und seine Schwester Todesängste ausstehen, als der Vater mit ihnen betrunken in den Vergnügungspark fährt und dort nicht mehr auftaucht, nachdem er sie abgesetzt hat. Der Ausflug stellt den endgültigen Bruch Nicos mit seinem Vater dar, denn Nico kann ihm zu diesem Zeitpunkt nicht mehr verzeihen, das Leben seiner eigenen Kinder aufs Spiel gesetzt zu haben. Daher kommt für die Rettung der Vater-Sohn-Beziehung in der Konsequenz als letzte Möglichkeit nur der Aufenthalt des Vaters in einer Entzugsklinik infrage; der letzte Weg, den der Roman auch geht. Gerade hier und somit zum Schluss von Nicos Briefs sind seine Verletztheit, Traurigkeit und Wut spürbar – Gefühle, denen der im Vergleich dazu kurze und vom Leser als fast oberflächlich wahrgenommene Antwortbrief des Vaters weder sprachlich noch inhaltlich gerecht werden kann und dessen es nicht bedurft hätte.

„Katertag“ wird rückschauend aus der Ich-Perspektive mit Blick auf das ganze Ausmaß der Alkoholkrankheit und ihre Auswirkungen erzählt, verliert dabei aber nicht den direkten Zugang zum Leser, der sich bei den Schilderungen der einzelnen Hoch- und Tiefs oft als unmittelbarer Teilnehmer am Geschehen fühlt. Der jugendliche Leser sollte sich unmittelbar und mühelos mit der authentisch wirkenden Hauptperson identifizieren können, was auch durch den leicht ironisch-tapferen, überhaupt nicht selbstmitleidigen Schreibstil erreicht wird. Die Autorin schafft es, das sensible Thema Alkoholismus auf hohem sprachlichen Niveau dem Leser verständlich zu vermitteln. Die gute Lesbarkeit, die durch große Schrift und häufige Absätze gefördert wird und der verhältnismäßig geringe Textumfang verbessern die Verständlichkeit und regen die Lesefreude zusätzlich an.

Fazit: Der Roman „Katertag“ besticht durch die aktuelle und brisante Thematik Alkoholismus, deren Schilderung auf gleichzeitig unmittelbare, unverhüllende und trotzdem gefühlvolle Art authentisch wirkt und Platz zur Identifikation der Jugendlichen mit dem Ich-Erzähler lässt. Vor allem durch dessen Persönlichkeit und starken Charakter, der unter der Sucht des Vaters zwar leidet, aber gleichzeitig ein Mittel findet, damit umzugehen, und sogar daran reift, wird der Leser beeindruckt.

"Wie faszinierend es ist, wenn ein Jugendlicher Worte als Waffe entdeckt, um sich gegen die Übermacht der Erwachsenen zu stellen, zeigt dieser Text mit Wucht, Eleganz und ohne jeden falschen Ton. Unter den aktuellen deutschen Jugendbüchern findet er nicht leicht seinesgleichen." (F.A.Z.) 

„Katertag – Oder: Was sagt der Knopf bei Nacht?“ gewann 2010 den ersten von F.A.Z. und Chicken House ausgerichteten Jugendliteraturpreis „Goldenen Pick“
(Laudatio F.A.Z.: www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/der-goldene-pick/gewinnerin-des-goldenen-pick-2010-das-ist-jugendliteratur-1578468.html, und Chicken House: www.carlsen.de/sites/default/files/ChickenHouse_Abedi_Laudatio_GoldenerPick_fuerDuerig.pdf, aufgerufen am 21.7.2013).

Der Roman wurde außerdem 2012 zum Deutschen Jugendliteraturpreis (Preis der Jugendjury) nominiert (www.djlp.jugendliteratur.org/2012/preis_der_jugendjury-5/artikel-katertag-3764.html, aufgerufen am 21.7.2013).

Die allgegenwärtige Thematik der „Volkskrankheit“ Alkoholismus bietet in einer literarisch anspruchsvollen Darstellung Reflexionsansätze und soll die Jugendlichen sensibilisieren: Als Klassenlektüre erscheint der komprimierte Roman durchaus dazu geeignet. 

Hinweise auf Medienverbund: R. Dürig: Katertag – Oder: Was sagt der Knopf bei Nacht? Gelesen von Mirco Kreiblich. Ungekürzte Lesung. Silberfisch (Hörbuch Hamburg) 2011.

Lehrerhandreichung (noch) nicht vorhanden.