Buchcover Harald Rosenløw Eeg: Brennweite - Spiel mit dem Feuer

Durch einen unglücklichen Unfall wird der Protagonist Dag Vidal einer neuen Pflegefamilie...

Rezension von Kristin Geßner und Catharina Winter

Durch einen unglücklichen Unfall wird der Protagonist Dag Vidal einer neuen Pflegefamilie zugewiesen, wodurch sein Leben und seine bisherigen Ansichten auf die Probe gestellt werden. Von seiner Pflegemutter bekommt er eine Videokamera geschenkt, die ab sofort sein ständiger Begleiter ist...

BuchtitelBrennweite - Spiel mit dem Feuer
AutorHarald Rosenløw Eeg
GenreGegenwart & Zeitgeschichte
Lesealter14+
Umfang192 Seiten
Edition2011
VerlagGerstenberg
ISBN978-3836953818
Preis14.95 € (gebundene Ausgabe)

Durch einen unglücklichen Unfall wird der Protagonist Dag Vidal einer neuen Pflegefamilie zugewiesen, wodurch sein Leben und seine bisherigen Ansichten auf die Probe gestellt werden. Von seiner Pflegemutter bekommt er eine Videokamera geschenkt, die ab sofort sein ständiger Begleiter ist. Motiviert durch die Aufgabe seines Norwegisch-Lehrers, einen Film über die Zeit vor den Sommerferien zu drehen, filmt Dag unentwegt und reflektiert dadurch seine Mitmenschen und seine Umgebung. Immer wieder wird er von blitzlichtartigen Szenen aus seiner Vergangenheit überwältigt: Dag, eingesperrt in einem kleinen stickigen Zimmer ohne Fenster, der Brand, den er gelegt hat, und der Tod seines Bruders Dennis, an dem sich Dag die Schuld gibt. Durch das viele Filmen gibt er in seiner Rolle als Beobachter mehr von sich selbst Preis, als er geplant hatte, und arbeitet vermehrt seine Vergangenheit auf.

Ich sehe das Leben wie in einem Film. Und denke an Flammen. Ich sehe Tankwagen vor mir, die geradewegs in Munitionslager rasen, die Zäune durchbrechen und ohne abzubremsen di-rekt hineinfahren, Tankstellen sky high, Ölfässer, die zum Himmel hochschießen, Kettenex-plosionen, Hubschrauber, die in Hochspannungsmasten stürzen und wie Feuerkugeln am Himmel zerplatzen, Autos, die durch die Luft fliegen. Aber alles, was ich habe, ist die Streich-holzschachtel, die vor mir auf dem Fußboden liegt.

Es ist stockfinster in dem glühend heißen kleinen Raum. Die Luft ist schwer, als steckte mein Kopf jedes Mal, wenn ich Luft hole, in einer Plastiktüte. Ich knie und taste mich zur Streichholzschachtel vor. Ich schüttle sie. Ein Streichholz ist noch übrig. Ich öffne die Schachtel mit zitternden Händen und hole es heraus. Ich fasse Mut und drücke den roten Kopf des Streichholzes gegen die graue Zündfläche, doch alles, was zum Vorschein kommt, ist ein ein-samer Funke. Das Streichholz rutscht mir fast aus den Fingern, ich reiße es erneut an, und der kleine Raum wird von einer einsamen Flamme erleuchtet. Ich umklammere das Streichholz, während ich langsam wieder Luft bekomme. Ich sehe, wie die Flamme das Streichholz hinunterbrennt, und vergesse beinahe alles um mich herum. 

Ich zwinge mich, das Streichholz vor mir hochzuhalten. Der Raum erinnert eher an ei-nen großen Schrank als an ein Zimmer. Es gibt kein Fenster. Ein paar Jogginghosen und T-Shirts hängen an den Bügeln über mir, der Fußboden ist voll mit alten Turnschuhen. Ich kann meine Matratze und den Stapel mit CDs erkennen, während ich das Streichholz wie eine Fackel um mich herum halte, die Wände entlang suche, über die Fußleisten, bis hoch zur Decke, nach einem Spalt, einen Schwachpunkt, einer Extraöffnung, obwohl ich doch weiß, dass ich nichts Neues finden werde. Denn es gibt keine andere Möglichkeit, hier herauszukommen, als durch die verschlossene Tür. Ich kann nirgends entkommen. Der Schweiß rinnt mir in die Augen, sodass sich ihn wegreiben muss. Die Flamme des Streichholzes stößt gegen etwas, Dinge, die im Weg hängen, aber ich habe nur wenig Zeit, eine Lösung zu finden. Wenn das Streichholz verbrannt ist, werde ich wieder in der Dunkelheit sein.

Die Hand, die nicht das Streichholz hält, donnert noch einmal gegen die Schranktür, hämmert mit geballter Faust dagegen, ohne dass etwas passiert. Die Tür gibt nicht nach. Ich sammle all meine Kraft für einen letzten hysterischen Schrei, als das Streichholz meine Fin-gerspitzen verbrennt, sodass ich es auf den Teppich fallen lasse. Einen Moment lang scheint es, als wäre die Flamme erloschen, das Feuer fort und als umhüllte mich die Dunkelheit voll und ganz. Es ist schwarz in meinem Kopf, und eine Zeit lang kann ich als Einziges meine eigenen pfeifenden Atemzüge vernehmen. 

Da höre ich plötzlich ein knisterndes Geräusch in der Tapete auf der Innenseite der Schranktür. Und fast gleichzeitig, während ich nachsehe, was da ist, muss ich mich vor der blauen Flamme zurückziehen, die plötzlich die Tür hinaufschießt. Die Hitze verbrennt meine Augenbrauen, die Luft brennt in der Lunge, und ich schlage mit beiden Händen gegen die brennende Tür. Beschließe so schnell wie möglich durch sie hindurchzulaufen. 

Vielleicht haben sie gekriegt, was sie wollten? (S. 5-6).

Die doppeldeutige Metaphorik des Titels „Brennweite“ weist auf die zentralen Themen des Romans hin: Zum einen wird durch das aktive Filmen im Buch die Nähe und Ferne des Ich-Erzählers zu den Figuren in Dags unmittelbarem Umfeld hergestellt. Er selbst kann entscheiden, wie nah er diese an sich heranlässt und welche er lieber auf Distanz hält.
Zum anderen impliziert der Begriff „Brennweite“ einen Bezug zu Feuer. Der Brand, den Dag in der Vergangenheit gelegt hat, spielt in der Gegenwart der Handlung eine bedeutende Rolle. Dieses Ereignis holt ihn bis heute immer wieder traumatisch ein. Zu Beginn des Romas kommt Dag in eine neue Pflegefamilie, die ihn liebevoll aufnimmt und ihm ihr volles Vertrauen schenkt. Dag weiß angesichts der grenzenlosen Zuneigung, vor allem von seinem Stiefbruder Gustav, gar nicht, wie er damit umgehen soll, und hält jegliche Figuren, die ihm vertrauensvoll gegenübertreten, auf Distanz. Von Anfang an herrscht im Roman eine Atmosphäre, die vermuten lässt, dass dem Protagonisten etwas Schlimmes widerfahren sein muss. Im weiteren Verlauf werden immer wieder blitzlichtartige Szenen (siehe Leseprobe) in die Erzählung eingebaut, wodurch Dag (und damit auch der Leser) mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird.

Mit dem Blick durch Dags Videokamera ist der Leser eingeladen, den Protagonisten auf seinem Weg zu begleiten, sich in seinem neuen Umfeld einen Platz zu schaffen und sich in die Gesellschaft einzugliedern. Eine große Schlüsselfunktion hat dabei das Filmen, durch das er sich seinem Umfeld annähert. Durch die Videokamera kann er Figuren aus der Distanz filmen und sie zugleich "zu sich heranzoomen". Das Filmen wird von Dag als Mittel eingesetzt, Nähe und Distanz zu schaffen sowie zwischen Vertrauen und Abwehr alternieren zu können.

Durch seine neue Familie, seinen Norwegisch-Lehrer und nicht zuletzt durch seine neue Freundin Gloria erfährt Dag, dass ihm Liebe und Vertrauen entgegengebracht werden. Diese Gefühle machen Dag jedoch Angst, so dass er sich ihnen lieber entzieht und seine Mitmenschen auf Distanz hält.
Und genau diese Angst treibt ihn zum Schluss dazu, einen fatalen Fehler zu begehen.

Harald Rosenløw Eeg hat mit Dag eine selbstkritische und unsichere Figur geschaffen, die jedoch gleichzeitig intelligent und originell sein kann. Sein zum Teil brüskierendes Verhalten gegenüber seiner Umwelt erklärt sich aus seinen quälenden Schuldgefühlen, welche aus der Tatsache resultieren, dass er sich die Schuld am Tod seines Bruders Dennis gibt. Diese Ängste sind sein stetiger Begleiter und lassen ihn im weiteren Verlauf des Romans beinahe zum erneuten Täter werden. Sein Trauma wird symbolisch durch das Verbrennen von Dennis´ Kleidung verarbeitet, was das Ende des Buches zwar nicht als „Happy End“ abschließt, jedoch einen positiven Ausblick auf die „neue“ Zukunft Dags verweist und einen Einstieg in ein normales Leben bietet.

Die Handlung des Jugendbuches spielt vor allem im Haus, der Umgebung der neuen Pflegefamilie, an dem nahen See, dem Schulhof und der Schule in einer ländlichen Region in Norwegen.

Der Aufbau von „Brennweite – Spiel mit dem Feuer“ ist abwechslungsreich und wird durch insgesamt sechs Rückblenden aufgelockert, die kursiv gedruckt sind und jeweils den Titel „rewind“ (zu Beginn) oder „play“ zwischen den Kapiteln enthalten. Nach der letzten Rückblende folgt ein abschließendes Kapitel.

Grundlegend für die Spannung des Romans ist die Tatsache, dass Dag in der Ich-Form erzählt. Die Geschichte ist im Präsens verfasst, zudem einfach und verständlich geschrieben, so dass auch weniger geübte Leser gut mit dem Text zurechtkommen.
Spannend ist nicht nur, was Dag über seine Freundin, den Badeunfall des kleinen Bruders oder seinen Ausraster am Ende des Romans erzählt, sondern auch was er nicht erzählt und was sich erst langsam in Andeutungen herausschält: seine dramatische Vorgeschichte. In kurzen, kursiv gedruckten Passagen wird sie immer wieder eingeblendet – ein Albtraum bestehend aus Angst, Ohnmacht und Schuldgefühlen.

Fazit: Das Buch beschreibt einen traumatisierten 14-jährigen Jungen, der sich in jungem Alter sehr vielen Problemen stellen muss. Auf Grund der kontroversen Stellung des Protagonisten, die aus seiner Vorgeschichte resultiert, liefert das Buch ein enormes Diskussionspotenzial für den jugendlichen Leser.

»Die filmische Dramaturgie gibt dem Roman eine flirrende Spannung, der sich der Leser nicht entziehen kann. « , so die Süddeutsche Zeitung.

Für das Buch „Brennweite“ wurde sein Autor 2004 mit dem Brage-Preis (dem wichtigsten norwegischen Literaturpreis) ausgezeichnet.

Der spannende Roman fördert Leselust. Die Thematik eines Jungen, der „anders“ als andere Jugendliche seines Alters ist und sich mit ganz anderen Sorgen und Problemen beschäftigen muss, spricht Jugendliche gleichen Alters an, die aktuelle und zunehmende sozialisationsbedingte Probleme selbst kennen (Scheidung der Eltern u.a.) und sich mit diesen ebenfalls auseinander setzen müssen.

Die vor allem anfangs sehr unsympathisch wirkende Hauptfigur Dag bietet großes Diskussionspotential im Unterricht. Die „Play“- Sequenzen als Einblicke in Dags Vergangenheit bieten erzeugen Spannung, womit die Motivation aufrecht erhalten wird, den Roman weiterzulesen.

Hinweis auf den Medienverbund: Das Buch kann begleitend mit dem Onlineportal „Antolin“ zur Leseförderung von Klassen 1- 10 im Unterricht gelesen werden. Kinder, die das Online-portal Antolin schon genutzt haben, bewerteten das Buch „Brennweite- Spiel mit dem Feuer“ mit 3,5 von 5 Sternen. (www.antolin.de/all/bookdetail.jsp%3Bjsessionid=abc55tx0BRtYv9K6KWk7s).