Buchcover Junot Díaz: The Brief Wondrous Life of Oscar Wao

Oscar ist etwas mehr als der klassische Teenager-Nerd. Er hat gerade mal 2 Freunde (die sich für ihn...

Rezension von Simon Kukulies

Oscar ist etwas mehr als der klassische Teenager-Nerd. Er hat gerade mal 2 Freunde (die sich für ihn schämen), 136 Kilo auf den Rippen und nicht den Funken Aussicht auf Sex in seinem Leben. Während das selbst für einen Nerd schon relativ schlimm ist, ist es für einen dominikanischen Jungen, also eigentlich einem Vollblut-Casanova, eine Katastrophe. Er verliebt sich auf der Stelle in jede hübsche Frau, die er trifft...

BuchtitelDas kurze wundersame Leben des Oscar Wao
AutorJunot Díaz
GenreComing of Age
Umfang339 S. (engl.); 384 Seiten S. (dt.)
VerlagRiverhead Trade (engl.); FISCHER Taschenbuch (dt.)
ISBN978-1594483295 (engl.); 978-3596188628 (dt.)
PreisEUR 6,70 (engl.); EUR 9,95 (dt.)

Oscar ist etwas mehr als der klassische Teenager-Nerd. Er hat gerade mal 2 Freunde (die sich für ihn schämen), 136 Kilo auf den Rippen und nicht den Funken Aussicht auf Sex in seinem Leben. Während das selbst für einen Nerd schon relativ schlimm ist, ist es für einen dominikanischen Jungen, also eigentlich einem Vollblut-Casanova, eine Katastrophe. Er verliebt sich auf der Stelle in jede hübsche Frau, die er trifft. Dies wird jedoch nur selten erwidert, und wenn das mal passiert, landet er jedes Mal in der „Freundschaftszone“. Was er kann ist Schreiben, meistens Sci-Fi- und Fantasy-Romane. Vielleicht kommt es auch von seiner regen Phantasie, dass er zu der Überzeugung gelangt, auf seiner Familie laste ein „Fukú“, ein Fluch, der direkt von Trujillo kommt und die gesamte Familie auslöschen wird.
Seine Schwester Lola macht sich Sorgen um ihn. Dabei muss sie sich selber irgendwie durchschlagen. Ihre Mutter, Belicia Cabral, hat 2 Jobs, bekommt später Krebs, kann ihren Kindern keine Zuneigung zeigen und ist ein Kontrollfreak. Belicia hat eine Affäre mit einem Geheimpolizisten, der mit der Schwester des Diktators verheiratet ist. Es folgen Schwangerschaft, Entführung, Misshandlung, Gewalt und darauf folgend, Fehlgeburt, körperliche Genesung, und schließlich die heimliche Ausreise in die USA. Unser Titelheld trifft am Ende tatsächlich noch die Frau seiner Träume: Ybón, liiert mit dem überaus brutalen Polizisten, dem "Capitán". Er und  Ybón fliehen für ein Wochenende und haben sogar Sex. Kurz danach wird er von zwei Handlangern von Ybóns Freund verschleppt und erschossen.

„And so now every week they headed out to either a movie or the mall. They talked. He learned that her ex-boyfriend, Manny, used to smack the shit out of her, which was a problem she confessed, because she liked it when guys were a little rough with her in bed; he learned that her father had died in a car accident when she was a young girl in Macorís, and that her new stepfather didn’t care two shits about her but that it didn’t matter because once she got into Penn State she didn’t ever intend to come back home. In turn he showed her some of his writing and told her about the time he’d gotten struck by a car and put in the hospital and about how his tío used to smack the shit out of him in the old days; he even told her about the crush he had on Maritza Chacón and she screamed, Maritza Chacón? I know that cuero! Oh my god, Oscar, I think even my stepfather slept with her!
    Oh, they got close all right, but did they ever kiss in her car? Did he ever put his hands up her skirt? Did he ever thumb her clit? Did she ever push up against him and say his name in a throaty voice? Did he ever stroke her hair while she sucked him off? Did they ever fuck?
    Poor Oscar. Without realizing it he’d fallen into one of those Let’s-Be-Friends Vortexes, the bane of nerdboys everywhere. These relationships were love’s version of stay in the stocks, in you go, plenty of misery guaranteed and what you got out of it besides bitterness and heartbreak nobody knows. Perhaps some knowledge of self and of women.”

(S. 40-41)

Der Ich-Erzähler in seiner Welt
Tatsächlich ist die meiste Zeit der Ich-Erzähler nicht Oscar, sondern Yunior, ein Bekannter und ehemaliger Liebhaber von Oscars Schwester Lola. Im Gegensatz zu Oscar ist er ein „Siegertyp“: Gewichtheber, athletisch und gutaussehend. Die meiste Zeit hat er eine Freundin, und wie er selber behauptet, nebenher noch 3 oder 4 andere Frauen, mit denen er schläft. Er spielt also weniger die Rolle der Identifikationsfigur für erwachsenwerdende Jungen, teilweise entspricht er aber möglicherweise den geheimen Wünschen der Jugendlichen, so zu sein wie er.
Er erzählt das Leben der Familien Cabral und de León im Rückblick, durch von lebenden und verstorbenen Mitgliedern mündlich und schriftlich tradierte Erinnerungen. Auch wenn er die Geschichte erzählt, sind die Identifikationsfiguren des Romans eher die Familien Cabral und de León. Diese grenzen sich von sehr unterschiedlichen Standpunkten von ihrer jeweiligen Umwelt ab.
Da Oscar eh durch sein Übergewicht und seine Hobbys ein Außenseiter ist, macht er aus seiner Not eine Tugend. Er möchte anders sein als die anderen Jungen in seinem Alter. Er möchte der nette Kerl sein, der die Frauen nicht hintergeht, der tiefsinnig ist, und der wegen seiner inneren Werte geliebt werden will. Eine Freundin, und vor allem Sex, wünscht er sich trotzdem. Desweiteren grenzt er sich durch seine gebildete, oft veraltete Sprache von seinen Altersgenossen ab. Er glaubt, dass er dadurch über den anderen stehe, so oder so steht er auf jeden Fall sehr allein da. Letzten Endes sieht er die Erfüllung seines Lebens in einer kurzen Zeit mit einer Frau, die ihn aufrichtig liebt, und für die er stirbt. Somit wird er zu einer Art tragischer Held, die er aus seinen Comics kennt.
Lolas Teil der Geschichte wird als einziger von ihr selbst und nicht von Yunior erzählt. Sie möchte sich dem Griff ihrer Mutter entziehen, behält aber durch Oscar und ihre "Großmutter" La Inca den Kontakt zur Familie. Sie entwickelt sich zu einer ehrgeizigen Frau, die (vor allem finanzielle und emotionale) Unabhängigkeit von ihrer Mutter und ihrem dominikanischen Erbe will. Sie teilt mit Oscar auch ihre Liebe zu Literatur. Die Mutter, Belicia, will zuerst gar nicht gegen ihre Umstände rebellieren. Sie ist anfänglich eine sehr hübsche, naive und manipulative junge Frau, die von einem edlen Ritter träumt, der sie aus dem Slum holt, in dem sie lebt, und ihr ein Leben der Schönen und Reichen zu Füßen legt. Sie wird aber durch ihre Affäre mit dem Ehemann von Trujillos Schwester gezwungen, sich gegen ihre bisherige Welt zu wenden. Erst in den USA wird sie zu der Mutter, die zwei Jobs annimmt, um ihre Kinder zu versorgen. Sie wird also zu dem, was sie sich niemals für ihre Leben in der "alten Welt" vorgestellt hatte - eine verarmte, wenig attraktive, alleinerziehende Mutter, die die ganze Zeit nur arbeitet.

Verstehen durch Erzählen
Yunior erzählt häufig mit einem gewissen Mitleid von den Familien Cabral und de León. Seine Haltung gegenüber dem Trujillo-Regime und all seinen Sympathisanten wird ebenfalls nur allzu deutlich klar. Den meisten dieser Akteure gibt er wenig schmeichelhafte Namen ("Fuckface", "Gangster"...), und verurteilt all ihre Taten, wenn auch eher unterschwellig und sarkastisch, meist in den Fußnoten. Durch das beschreibende, wenig wertende Erzählen verlieren die Gräueltaten allerdings wenig an Schrecken. Da er von der „Siegerseite“ aus auf die Leben der Cabrals und de Leóns blickt, werden vor allem die Unterschiede und das viele Leid deutlich. Insbesondere bei Oscar wird dies allzu klar.
In der roten Ecke: Yunior, der Bully, der „coole“ Typ, der sich irgendwie durch die Schule und das College schlägt, aber mit seinem Leben einigermaßen zufrieden ist. Er ist sportlich, hat Freunde, ist beliebt und kämpft eigentlich nur darum, den Überblick über seine vielen Liebschaften zu behalten. In der blauen Ecke: Oscar, der fette, hässliche, der „schräge“ Typ, den Yunior für einen kompletten Versager hält. Um den er sich eigentlich nur kümmert, um seine Schwester Lola zu beeindrucken. Spielt Rollenspiele, redet seltsam und ist furchtbar erfolglos bei allen Frauen. Er kämpft vor allem darum, irgendwann mal eine Frau zu finden, die ihn liebt wie er sie, und die mit ihm Sex hat.
Aber Yunior erkennt seine Probleme nach und nach an, versucht ihm sogar zu helfen. Er übernimmt sogar ein paar Interessen von ihm, wie einige der Anime-Serien, die Oscar guckt, oder manche Ausdrucksweisen, wie etwa das Schadensmaß in n-seitigen Würfeln. Und er scheint irgendwann an den Fluch, „Fukú“ zu glauben. Am Ende sieht er, dass Oscars Taten nicht so dumm oder versagerhaft waren, wie er gedacht hat. Er erkennt, dass Oscar hingebungsvoll auf etwas Bedeutsames hingearbeitet hat, was ihm in seinem Liebesleben nie gelungen ist. Es bleibt allerdings dem Leser überlassen, ob der Tod ein Preis ist, den man in so einem Fall zu zahlen bereit wäre. Yunior bewundert es auf der einen Seite, findet es aber auf der anderen Seite furchtbar dumm.

Formale Aspekte
Um der Wahrheit Ehre zu geben, leserfreundlich ist das Buch für den berüchtigten deutschen Ordnungssinn nicht gerade. Die einzelnen Geschichten der Familien Cabral und de León können zwar vom Leser durch Jahreszahlen am Anfang des Kapitels in eine Reihenfolge gebracht werden. Im Buch selber wird jedoch achronologisch vorgegangen. Die Unterteilungen in Kapitel sind für den Lesefluss zwar nicht hilfreich, aber andererseits stören sie auch nicht. Bei der sprachlichen Komplexität ist das Buch eine kleine Herausforderung. In die Kapitel schleichen sich immer wieder kleinere und größere Brocken Spanisch ein, die den Leser ab und an über Wörter stolpern lassen, und insbesondere bei Familienkonstellationen für Klärungsbedarf sorgen. Die Sprache ist im ganzen Buch mehr als jugendfreundlich gehalten; die meist sehr derbe Ausdrucksweise ist eine authentisch wirkende und erfrischende Abwechslung zu bemüht pädagogisch wertvollen und politisch korrekten Büchern. Trotz relativ einfach gehaltener Sprache und einigermaßen kurzer Sätze sollte das Buch eher für Schüler der Oberstufe eingesetzt werden, da durch die häufigen Wechsel ins Spanische, die vielen Slangausdrücke und Idiome, sowie der Reihenfolge der einzelnen Lebensgeschichten ein Leser aus niedrigeren Jahrgängen überfordert und demotiviert werden könnte. Das Cover ist sehr schlicht, und zeigt, je nach Ausgabe, einen kleinen Jungen mit einer „Flash“-Maske, der Süßigkeiten ist; nur den Titel und den Schatten eines Jungens, der ihn anstarrt; oder den Kopf eines Jungen mit einem flügelartigen Fortsatz am Hinterkopf.

Zusammenfassende Bewertung und Fazit
Verdienter Gewinner des Pulitzerpreises. Das Buch lässt nicht nur die Sorgen und Probleme eines übergewichtigen, nerdigen Außenseiters hautnah und realistisch erscheinen, es beschreibt auch, dass einem mit gutem Aussehen noch lange nicht alles in den Schoß fällt. Und ganz nebenbei arbeitet es noch ein Stück er Geschichte der dominikanischen Republik auf. Außerdem könnte es vor allem der Entfremdung zwischen Teenagern und Eltern entgegenwirken. Nicht so, dass sie dadurch ein ungesundes Bindungsverhalten entwickeln und nie gegen ihre Eltern und deren Welt rebellieren. Aber so, dass junge Menschen zum Nachdenken darüber angeregt werde, was Mütter oder Väter alles für sie durchgemacht haben, ganz im Sinne von: „Ich habe zwei Jobs um euch zu ernähren. Mir wurde der Rücken mit heißem Öl übergossen, als ich mich danebenbenommen habe! Meine Eltern und Geschwister wurden von einem faschistischen Diktator umgebracht! Und du bist sauer, dass ich dir deine Playstation wegnehme?“.
Alles in allem deckt dieses Buch so ziemlich jeden Bereich ab, der für Jugendliche, insbesondere männliche, aber auch weibliche Teenager in ihrem Alter irgendwie relevant ist. Ein Roundhousekick des coming-of-age-genres.