Buchcover Sonja Kaiblinger: Scary Harry – Von allen guten Geistern verlassen

Otto kann Geister sehen. Das ist manchmal nervig, aber inzwischen hat er sich mit dieser Gabe...

Rezension von Eva Maus

Otto kann Geister sehen. Das ist manchmal nervig, aber inzwischen hat er sich mit dieser Gabe arrangiert. Auch mit den drei Hausgeistern, die mit ihm in der Villa seiner Tante wohnen, kommt er gut aus. Außerdem hat er in Emily eine tolle beste Freundin, die an Geister glaubt, obwohl sie sie nicht sehen kann. Als die beiden Harold, einen echten Sensenmann, kennenlernen, erschrecken sie sich zunächst sehr, stellen aber bald fest, dass das Skelett mit den verschiedenfarbigen Turnschuhen ein echt netter Typ ist...

BuchtitelScary Harry – Von allen guten Geistern verlassen
AutorSonja Kaiblinger
GenreHorror & Grusel
Lesealter8+
Umfang240 Seiten
Edition3. (1. Auflage 2013)
VerlagLoewe
ISBN978-3785577424
Preis12,95 €

Otto kann Geister sehen. Das ist manchmal nervig, aber inzwischen hat er sich mit dieser Gabe arrangiert. Auch mit den drei Hausgeistern, die mit ihm in der Villa seiner Tante wohnen, kommt er gut aus. Außerdem hat er in Emily eine tolle beste Freundin, die an Geister glaubt, obwohl sie sie nicht sehen kann. Als die beiden Harold, einen echten Sensenmann, kennenlernen, erschrecken sie sich zunächst sehr, stellen aber bald fest, dass das Skelett mit den verschiedenfarbigen Turnschuhen ein echt netter Typ ist. Seine Aufgabe ist es, die Seelen der verstorbenen in Gurkengläsern verstaut über eine Art Pfandautomat ins Jenseits zu befördern. Seelen, die dort nicht rechtzeitig eintreffen, müssen ewig als Geister auf der Erde bleiben. Leider hat das auch der schmierige Freizeitpark-Besitzer Bleu herausgefunden und will nun mit diesen Geistern eine wirklich gruselige Geisterbahn ausstatten. Als er deswegen Sir Tony aus Ottos Villa verschleppt, machen sich Emily, Harold, Otto und seine sprechende Fledermaus Vincent auf, um ihn und die anderen eingesperrten Geister zu befreien. Was zunächst nach einer einfachen Rettungsaktion klingt, wird wirklich brenzlig, als Bleu sie durchschaut, Emily entführt und dann auch  noch Ottos und Emilys Namen auf der Todes-Liste von Harold auftauchen – und die hat sich noch nie geirrt.

Der Tod hielt inne. Bevor Otto wusste, wie ihm geschah, machte sein Gegenüber zwei hastige Schritte auf ihn zu und hielt ihm mit einer knochigen, käseweißen Hand den Mund zu. „Schscht. Jetzt komm mal runter und halt die Klappe, junger Mann“, antwortete er mit einer Stimme, die ganz anders klang, als Otto es von einem Einbrecher-Skelett erwartet hatte. Nicht mal im Ansatz gruselig. Eher wie eine cool Figur aus einem Trickfilm. „Genug mit der Hysterie. Oder bist du etwa ein Mädchen?“
Otto schüttelte die knochige Hand ab, um zu antworten. „Ich bin ein Junge. Und ich heiße Otto.“
Der Sensenmann wackelte mit dem Schädel, dann seufzte er. „Ein Junge, ach wirklich? Dann hätten wir das ja geklärt. Und jetzt hör mir mal zu: Ich muss diesen Auftrag hier zu Ende bringen. Wenn deine olle Tante von deinem Geschrei wach wird und mich stört, muss ich morgen Nacht wiederkommen. Denkst du, drei Nachtdienste in Folge sind witzig? Denkst du das?“
Otto schüttelte den Kopf.
„Vielleicht kannst du deinen Nachbarn hier im Radieschenweg mal nahelegen, lieber tagsüber zu sterben“, motzte der Sensenmann weiter. „Uns allen vom SBI wäre damit sehr geholfen. Womöglich schickt man die sogar eine Weihnachtskarte.“
„Was… was ist das SBI?“ Otto hielt immer noch den Schürharken vor seine Brust.
„Seelen-Beförderungs-Institut“, antwortete der Sensenmann knapp und deutete dabei auf die Rückseite seiner Kutte, wo drei dicke Buchstaben aufgenäht waren. SBI „Miserabler Job. Miserable Bezahlung. Noch miserableres Dienstauto. Muss ich noch mehr sagen?“
Otto wusste keine Antwort darauf.
(S.56f.)

Den etwas faulen, aber sehr liebenswerten Sensenmann schließt man genauso ins Herz wie seine verschrobenen Freunde. Sonja Kaiblinger schreibt skurril und witzig alle Ängste vor Geistern und dem Sensenmann weg. Sie entführt kleine und große Leser in eine abenteuerliche, von Toten bevölkerte und zugleich größtenteils freundliche Parallelwelt. Ein kurzweiliges und gelungenes Buch!

Das wirklich Gruselige in Scary Harry – Von allen guten Geistern verlassen sind weder der Tod noch die Geister, sondern ein Mensch. Obwohl das erste Erscheinen des Sensenmannes schaurig daherkommt, sind alle geisterhaften Erscheinungen ungefährlich und relativ freundlich. Zwar haben sie ihre liebenswerten Schrullen – wie alle Figuren in dem Buch –, würden aber niemals jemandem wehtun. Sie verbünden sich mit Otto und Emily, um dem fiesen Geschäftsmann Bleu das Handwerk zu legen. Mögliche Ängste vor dem Tod oder Geistern werden so nur am Rande thematisiert, um dann sofort zerstreut zu werden. Wenn der überarbeitete Sensenmann über seinen Dienstwagen meckert oder der asthmakranke Geist Sir Tony sich über den Staub in seinem Zuhause – einem Staubsaugerbeutel – beschwert, ist das Buch herrlich skurril und weniger gruselig.

Zusammengeführt werden die Parallelwelten voller unsichtbarer Geister und die der lebenden Menschen durch Ottos nicht näher begründete Gabe, Geister zu sehen. Obwohl er sie zu verstecken versucht, macht ihn diese Fähigkeit in vielen Situationen zum Außenseiter und zum Opfer von Gespött. Dass er treue Freunde hat, mindert dieses Problem. Am Ende des Buches verschafft es Otto (und dem Leser) dann Genugtuung, wenn sich der fieseste Spötter beim Anblick des Sensenmannes vor Angst in die Hose pinkelt und schreiend davonläuft. Ottos Besonders-Sein  (und das seiner Freunde) ist eine entscheidende Voraussetzung für den Sieg gegen den bösen und skrupellosen Geschäftsmann Bleu. Dazu kann Otto die Loyalität seiner Mitstreiter und eine gehörige Portion Mut und Verstand vorweisen. Trotzdem ist er manchmal ratlos oder ängstlich. Das ist verständlich, denn die Geschehnisse spitzen sich immer weiter zu. Beim Showdown im Freizeitpark Scaryland wird es schließlich richtig spannend. Emily und Otto haben Todesangst, als Bleu sie mit einer Waffe bedroht. Doch natürlich triumphieren am Ende die Kinder und der Bösewicht bekommt seine verdiente Strafe.

Scary Harry – Von allen guten Geistern verlassen ist in 10 bis 15 Seiten lange Kapitel unterteilt und mit kleinen, lustigen Bildern des Illustrators Frederic Bertrand versehen. Genauso wie das farbenfrohe, liebevoll gezeichnete Cover und die große Schrift lädt dies den Leser zur Lektüre ein. Ebenfalls leserfreundlich ist die lockere und einfache Sprache Kaiblingers. Da das Gruslige sehr kindgerecht daherkommt und der gelungene Spannungsbogen zwar stets spürbar bleibt, aber nie überspannt wird, ist die lustige Geschichte um den Tod und seine Freunde zum Vorlesen auch schon ab acht Jahren zu empfehlen. Angesichts des Umfangs sollten Selbstleser eventuell etwas älter sein.

Scary Harry eignet sich insbesondere zur Leseanimation, da die einfache, aber spannende Geschichte und die Figuren, die man schnell ins Herz schließt, den Weg zum Buch und seinem Inhalt erleichtern. Dass es eine gewisse Coolness in Genre, Sprache und äußerer Erscheinung mitbringt, trägt außerdem dazu bei, dass Jungen (wie auch Mädchen) durch dieses Buch zum Lesen motiviert werden können.

Im Unterricht wäre das Buch – das auch im Leipziger Lesekompass 2014 ausgezeichnet wurde – als humorvolle Lektüre in der vierten oder fünften Klassenstufe geeignet. Es bietet sich dabei wunderbar für Ansätze des produktions- und handlungsorientierten Unterrichts an, in dem zum Beispiel neue, schrullige Hausgeister entwickelt werden könnten. Ein gruseliges Mitternachtsfest z.B. in der Zeit um Halloween mit Scary Harry – Lesung könnte ein aufregender Auftakt oder Abschluss einer solchen Unterrichtseinheit sein.

Eventuell befürchtete Probleme angesichts des sensiblen Themas Tod, sind wegen des humorvollen und leichten Erzählstils nicht zu erwarten.

Im Rahmen des Literaturdidaktik Hauptseminars von Frank Maria Reifenberg wurde zu Scarry Harry ein Unterrichtsprojekt zur Leseförderung entwickelt. Das Konzept und die Reflexion zum Projekt "Die Gruselnacht" finden Sie hier.