Buchcover Susin Nielsen: Die hohe Kunst, unterm Radar zu bleiben

Henrys Therapeut hat ihm ein Tagebuch geschenkt und er nutzt es –- auch wenn er es niemals zugeben...

Rezension von Eva Maus

Henry hat einiges durchzustehen, nachdem sein Bruder erst einen verhassten Mitschüler und dann sich selbst getötet hat. Sein Tagebuch liest sich dafür erstaunlich spannend, witzig und zugleich tiefgründig und traurig. Ein intelligentes Buch, das die Folgen einer Tragödie beleuchtet, ohne in Klischees abzurutschen.

BuchtitelDie hohe Kunst, unterm Radar zu bleiben
AutorSusin Nielsen
GenreGegenwart & Zeitgeschichte
Lesealter12+
Umfang256
Verlagcbt
ISBN978-3-570-31034-2
Preis9,99

Henrys Therapeut hat ihm ein Tagebuch geschenkt und er nutzt es –- auch wenn er es niemals zugeben würde. Seine Einträge sind abwechselnd traurig, ratlos, ängstlich und wütend. Denn der 13-jährige durchlebt eine harte Zeit. Seine Mutter ist weit weg in einer Psychiatrischen Klinik und mit seinem Vater ist er in eine kleine Wohnung in eine neue Stadt gezogen. Das bedeutet auch eine neue High-School und dort ist Henrys Devise: Bloß nicht auffallen. Am wichtigsten ist ihm, dass niemand ES erfährt. Doch auch, wenn er und sein Vater ES totschweigen, bestimmt es ihr Leben: Henrys großer Bruder Jesse hat vor wenigen Monaten nach einer langen Leidensgeschichte als Mobbingopfer in seiner Schule erst seinen schlimmsten Peiniger und dann sich selbst erschossen.

Der geplante Neuanfang in veränderter Umgebung will für Henry zunächst nicht so recht gelingen. Immer wieder spricht er in Roboter-Sprache und verschließt sich gegenüber allem und jedem. Erst nach und nach kann er in seinen exzentrischen und liebenswertes Nachbarn und Mitschülern Freunde finden, sich gegen Pöbeleien wehren, seinen Bauchschwabbel wieder loswerden, sich langsam seinem Therapeuten öffnen, seinem Bruder und sich selbst vergeben und schließlich sogar über ES sprechen.

Ich bin so wütend, dass ich zittere.
Als ich nach der Schule zu meiner Sitzung mit Cecil kam, trat diese dürre Dame mit den kurzen Locken und den hervorstehenden Augen ins Wartezimmer, sie trug ein gelbes Up With Life!-Shirt. Up with Life! Das ist dieser Verein, der helfen will, Selbstmordgefährdete früh zu erkennen. Plumper geht es ja wohl nicht. „Henry Larsen?“, sagte sie.
„Ja, antwortete ich.
„Ich bin Carol. Kommt mit.“ Erst als ich in ihrem Büro in der Falle saß, erzählte sie mir, dass Cecil mit einer Erkältung zu Hause lag, ich aber stattdessen mit ihr reden könne. Ich sagte: „Nein, ist schon gut“, aber sie war nicht zu bremsen. Sie sah meine Akte durch und dann sagte sie: „Dein Bruder hat also auf einen jungen Mann geschossen und ihn getötet und sich anschließend selbst das Leben genommen… Stimmt, davon habe ich in den Nachrichten gehört.“
!!!!
Danach fing sie an, in ihren Unterlagen herumzublättern ohne mich weiter zu beachten, aber als sie mich anschaute, schaute sie auf meinen Bauschwabbel!! Und sie sagte: „In der Akte steht, dass du seit dem tragischen Vorfall zugenommen hast. Benutzt du Essen als Trostmechanismus, wenn du niedergeschlagen bist?“
!!!!????
Ich wurde wütend und schaltete sofort auf Roboter-Henry um. „Auf Meinem Planeten. Ist Bauchschwabbel Ein Zeichen. Von Vornehmheit Und Wohlstand.“
Ihr Gesichtsausdruck war super. Als hätte sie gerade eine scharfe Chilischote runtergeschluckt.
„Warum redet du in dieser Stimme mit mir?“
„Welche Stimme? Was Meinst Du Damit, Erdling? Erkläre Es Mir. Sonst Werde Ich Dich. Mit Meiner Laserkanone Auslöschen.“
Sie schaute mich an, als würde sie sich gleich in die Hose machen und steuerte auf die Tür zu.

(S.113f.)

Die Themen, die Susin Nielsens „Die hohe Kunst, unterm Radar zu bleiben“ aufwirft, sind schwere Kost (Selbstmord, Trauer,…) und fühlen sich trotzdem beim Lesen nur sehr selten auch so an. Henrys Tagebucheinträge sind oft witzig und selbstironisch. Zuweilen kann er seine eigenen Motive, Ängste und Handlungen erstaunlich gut reflektieren und schreibt beispielsweise ohne Scheu von seinem neuen Bauchschwabbel und woher dieser kommt. In anderen Passagen, etwa wenn er zunächst abweisend gegenüber dem freundlichen Nachbarn Mr Atapattu auftritt, der ihm regelmäßig selbstgekochtes Essen vorbeibringt, muss der Leser selbst überlegen, was Henry so misstrauisch und übervorsichtig macht. Auch seine krampfhafte Unauffälligkeit in der Schule, die ihm anfangs die Teilnahme am Reach-for-the-Top-Team und damit den Anschluss an Gleichaltrige verbietet, kann der Leser erst im Laufe der Handlung nachvollziehen. Denn den einschneidenden Schicksalsschlag und seine vorangegangenen Erfahrungen offenbart Henry seinem Tagebuch – und damit dem Leser – nur stückchenweise. Neben den offenen Fragen nach Henrys psychischer Genesung und der seiner Eltern generieren auch diesbezügliche Andeutungen immer wieder Spannung. Mit jedem Puzzle-Stück seiner Geschichte, über das Henry schreibt, kann sich der Leser besser in ihn hineinversetzen und seine Motive verstehen: So lässt sich sein großer Wille, unterm Radar zu bleiben, auf die Mobbingerfahrungen seines großen Bruders zurückführen. Seine allgemeine Ablehnung gegenüber Menschen erklärt sich leicht mit der sozialen Ausgrenzung seiner Familie nach der schrecklichen Tat seines Bruders. Trotz der drastischen Erfahrungen Henrys wird jeder Leser dabei verschiedene Anknüpfungspunkte an die eigene Lebensrealität finden, da sich seine Gefühle und Erfahrungen um Schulhierarchien und Familienprobleme leicht auch aufs Allgemeine übertragen lassen.


Doch die exzentrische Alberta mit ihrem schielenden Augen und den stets  eigenwillig zusammengestellten Secondhand-Klamotten und der loyale Nerd Farley, mit dem Henry seine Vorliebe für Wrestling teilt, lassen nicht locker, begeistern Henry schließlich doch für das Quiz-Team und werden zu echten Freunden – und in Albertas Fall sogar etwas mehr. Am Ende gelingt es Henry mit ihnen über die Tat seines Bruders zu sprechen. Seine selbst gewählte Außenseiterposition wird ersetzt durch eine Integration in eine Außenseiter-Gruppe, die sich jedoch miteinander sehr wohl fühlt und sich auch gegen gemeine Schläger-Typen behaupten kann. Anders als sein Bruder Jesse, der schließlich die Selbstjustiz wählte, lernt Henry zudem, auch den Erwachsenen zu vertrauen. So kann Henry mit der Unterstützung seines Vaters, seiner neuen Freunde und der (doch sehr freundlichen und hilfreichen) Nachbarn, die ihn alle auf ihre ganz eigene Art helfen, zwar nicht aus der Trauer um seinen Bruder, aber aus der sozialen Isolation und den Selbstvorwürfen helfen. Susin Nielsen wählt dabei kein kitschiges Happy End oder verweilt in ausgetretenen Klischees: Ob Henrys Eltern als Paar die Tragödie überstehen und seine Mutter aus ihrer Depression findet, bleibt bis zuletzt ungeklärt.

In „Die hohe Kunst, unterm Radar zu bleiben“ wählt Nielsen eine eher ungewohnte Sicht auf einen Schul-Amoklauf und betrachtet das Danach und die Folgen für die Familie des Täters. Damit und mit ihrem sympathischen Protagonisten schafft sie den Spagat, ein schwieriges Thema angemessen und aufzuarbeiten und gleichzeitig ein hoffnungsvolles und unterhaltsames Buch zu schreiben, dass auch junge Leser begeistern dürfte, die eher leichtere Lese-Kost bevorzugen.

„Die hohe Kunst, unterm Radar zu bleiben“ ist eine geeignete Freizeitlektüre und ebenfalls als individuelle Lektüre in der Schule zu empfehlen. Sensible Leser sollten dabei die Möglichkeit haben, über das Gelesene zu sprechen, um bedrückende Inhalte zu verarbeiten, obwohl das Buch grundsätzlich sehr vorsichtig mit den Themen Selbstmord, Mord und Trauer umgeht und sich in weiten Teilen unterhaltsam liest. Eine gemeinsame Lektüre im Unterricht bietet sich daher ebenfalls an. „Die hohe Kunst, unterm Radar zu bleiben“ punktet hier durch die Vielzahl an Themen, die aufgegriffen und teilweise vermutlich auch kontrovers diskutiert werden können und durch eine gleichsam  unterhaltsame und spannende Erzählweise.