Buchcover Sigrid Zeevaert: gehen, immer weiter

Der 16-jährige Luis erzählt rückblickend aus seinem ganz normalen Alltag: Von der Schule, seinen...

Rezension von Julia Fränkle-Cholewa

„Gehen, immer weiter“ erzählt auf schlichte und doch eindringliche Weise die Geschichte einer Freundschaft. Erst nach und nach gelingt es Louis, hinter Edvards Fassade zu schauen und zu begreifen, was sich hinter dessen furchtbarem Geständnis verbirgt. Doch da ist es bereits zu spät und Luis muss sich eine entscheidende Frage stellen: Was wäre gewesen, wenn?

Buchtitelgehen, immer weiter
AutorSigrid Zeevaert
GenreComing of Age
Lesealter14+
Umfang160
VerlagThienemann
ISBN978-3-552-20211-4
Preis12,99
Erscheinungsjahr2015

Der 16-jährige Luis erzählt rückblickend aus seinem ganz normalen Alltag: Von der Schule, seinen Eltern, ersten Erfahrungen mit Mädchen – und von seinem Referat mit seinem Klassenkameraden Edvard. Obwohl die beiden Jungen auf den ersten Blick sehr unterschiedlich sind, freunden sie sich an und Luis wird schnell klar, dass bei Edvard zuhause einiges anders läuft, als er selbst es gewohnt ist. Luis beginnt, hinter die Fassade des stillen Jungen zu schauen, doch als er zu begreifen beginnt, was wirklich in Edvards Leben vorgeht, ist es bereits zu spät, denn Edvard legt ein erschütterndes Geständnis bei der Polizei ab.

Ich merke schon, wie gut es ist, alles der Reihe nach zu erzählen. Auch für mich selbst. Mom sagt ja auch, man müsse durch alles durch, sonst würde man es nicht wieder los. Ich glaube, da ist was dran. Wenn ich dann wieder ausweichen will und alles ungerecht ist. Immerhin sind doch auch Ferien und die anderen vergnügen sich jetzt wahrscheinliche an irgendwelchen Pools oder verschlafen den halben Tag.
Ich dagegen bin wach. Selbst in der Nacht schlafe ich nicht immer gut. Schrecke manchmal hoch, weil ich wieder so wirres Zeug geträumt habe und nicht weiß, was davon Traum und was Wirklichkeit ist. Dass das Leben sich so anfühlen kann, hat mir niemand gesagt. Und ich will nicht, dass mich alles wieder neu überfällt. Besser arbeite ich mich langsam voran.
Als ich am nächsten Morgen jedenfalls auf dem Schulhof ankam, sah ich Edvard nicht weit entfernt stehen. Anders als sonst, wenn er mit den Gedanken weit weg von allem war, hob er jetzt den Kopf, sah mich an.
Ich weiß noch, dass ich fast erschrak, vielleicht fühlte ich mich ertappt, weil ich ihn insgeheim schon wieder abgehakt hatte und jetzt merkte, dass die Sache so einfach nicht war. Ich nickte ihm zu.

(S. 26)

„Er war einfach da, ohne dass er eine Rolle spielte“ – und auch Luis nimmt lange Zeit kaum Notiz von seinem Mitschüler Edvard, bis er mit diesem zusammen ein Referat halten muss. Aus dieser Zusammenarbeit entwickelt sich nicht direkt eine Freundschaft, sondern vielmehr ein für Luis merkwürdig anmutendes Gefühl zwischen Fremdheit und Vertrautheit. Alles an Edvard scheint ungewöhnlich. Dennoch fühlt sich Luis zu dem geheimnisvollen Jungen hingezogen und schafft es schließlich, einen Blick hinter dessen stille Fassade zu werfen.

Genau wie Luis muss sich auch der Leser langsam an den Kern der Geschichte herantasten. Dabei steht der Ich-Erzähler nicht nur wie eine führende Hand an der Seite des Lesers, sondern bietet vielmehr ein so enormes Identifikationspotenzial, dass es dem Leser an manchen Stellen vorkommen kann, als sei er selbst der 16-jährige Luis. Schritt für Schritt lernen Leser und Erzähler verschiedenen Fassaden von Edvard kennen und tasten sich in dessen Leben vor. Ein Leben, das von einem unsagbaren Schmerz erfüllt ist, den es nicht nur für die Figuren, sondern auch für den Leser auszuhalten gilt.

Der Fokus der Geschichte liegt thematisch gesehen zwar auf Edvard, doch es gelingt der Autorin, dem Leser auch den Ich-Erzähler Luis näherzubringen. Wie beiläufig fließen dessen persönliche Erfahrungen und Gefühle in den Text ein: seine erste Liebe, sein Zwist mit den Eltern und seine Verbundenheit zu seiner älteren Schwester Greta – und in besonderem Maße seine Freundschaft zu Edvard. An immer neuen Stellen schließt Sigrid Zeevaert den Kreis der beiden Protagonisten zueinander und verbindet die zwei individuellen Geschichten zu einem gemeinsamen Lebensweg.

Dabei steht eine Frage im Vordergrund: Was wäre gewesen, wenn?

Immer wieder stellt Luis sich im Nachhinein die Frage, ob er die furchtbare Tat Edvards und dessen anschließendes Geständnis bei der Polizei hätte verhindern können. Und kommt zu dem Entschluss: „Ich hätte es nicht sagen dürfen. Hundert Millionen Mal habe ich mich dafür schon verflucht. Und ich hätte bleiben müssen, nicht weggehen von seiner Tür.“

Luis‘ Art zu reflektieren und dabei in Rückblicken immer mehr Schlüsselmomente aus seiner gemeinsamen Geschichte mit Edvard vor dem Leser zu offenbaren, hält den Spannungsbogen des Romans konstant hoch. Zu keinem Zeitpunkt der Erzählung ist es dem Leser gestattet, sich zurückzulehnen und sich gar dem Bann der Geschichte zu entziehen. Stattdessen reißt Sigrid Zeevaerts schlichte und doch eindringliche Erzählsprache den Leser mit in die Erlebnisse der beiden Jungen.

Zwar besteht die Geschichte zu einem großen Teil aus Rückblenden, doch erscheint sie dadurch weder statisch noch an die Vergangenheit gefesselt. Vielmehr suggerieren Luis‘ Erinnerungen und seine immer neuen Reflexionen, dass der Weg des Erwachsenwerdens keinesfalls festgelegt oder unerschütterlich ist. In seiner Art, das Geschehene immer wieder neu Revue passieren zu lassen, liegt eine besondere Form des Werdens eingebettet, die am Ende nicht auf ein bestimmtes Ziel, sondern eher auf einen neuen Weg hindeutet. Damit wird sein Wieder-Erzählen zu einer Art therapeutischen Narration und  der Titel des Romans – „Gehen, immer weiter“ – gewissermaßen zu einer Art Lebensmotte für Jugendliche.

So schlicht und leise die Geschichte erzählt wird, so einfach ist auch das Layout des Romans gehalten. Das Cover zeigt neben dem Titel nur ein paar ausgetretener Schuhe, die auf einem maroden Treppenabsatz stehen – gewissermaßen eine Schlüsselszene des Romans. Die formale Textgestaltung ist durch eine mittlere Schriftgröße sehr angenehm, die Kapitel mit einer durchschnittlichen Länge von fünf Seiten übersichtlich, ebenso wie der Gesamtumfang des Buches von 160 Seiten. Durch die formale Gestaltung, den Umfang und die Sprachkomplexität eignet sich der Roman bereits für weniger erfahrene Leser, doch sollte thematisch gesehen eine gewisse emotionale Festigkeit der lesenden Jugendlichen vorhanden sein.

Insgesamt betrachtet ist „Gehen, immer weiter“ von Sigrid Zeevaert weder ein Buch für Zwischendurch, noch eine entspannte Urlaubslektüre. Vielmehr verlangt der Roman dem Leser einiges an Emotionen ab und ist durch die Eindringlichkeit der Thematik eher für ältere Jugendliche und erfahrenere Leser geeignet. Doch wer bereit ist, sich auf die Geschichte und den damit verbundenen Schmerz einzulassen, wird ein Buch in den Händen halten, das ihn auch Stunden nach dem Lesen nicht loslässt.