Buchcover Emil Ostrovski: Wo ein bisschen Zeit ist…

Als Jack Polovsky an seinem 18. Geburtstag einen Anruf seiner Ex-Freundin erhält, traut er seinen...

Rezension von Miriam Wengeler 

'Wo ein bisschen Zeit ist ...' von Emil Ostrovski kommt schnell in Fahrt und holt junge Erwachsene in ihrer Lebenswirklichkeit ab.

BuchtitelWo ein bisschen Zeit ist…
AutorEmil Ostrovski
GenreComing of Age
Lesealter14+
Umfang303 Seiten
VerlagFischer
ISBN978-3-8414-2160-9
Preis16,99 €

Als Jack Polovsky an seinem 18. Geburtstag einen Anruf seiner Ex-Freundin erhält, traut er seinen Ohren kaum: Jess liegt im Krankenhaus und bringt gerade in diesem Moment ihr gemeinsames Kind auf die Welt! Jack macht sich auf ins Krankenhaus - und nimmt seinen zur Adoption freigegebenen Sohn kurzerhand mit. Er möchte ihn seiner dementen Großmutter zeigen, die er selbst schon lange nicht mehr gesehen hat. Zuerst holt er seinen besten Freund Tommy und später auch die Mutter des Kindes (Jess) dazu. 

Für die drei Teenager beginnt eine aufregende Reise, auf der sie nicht nur vor der Polizei fliehen, sondern auch von unerwarteter Seite Hilfe erfahren. Eine Reise, auf der Jack mit seinem Sohn Sokrates, so nennt er ihn heimlich, schon mal die ganz großen Themen des Lebens bespricht. Eine Reise, und das wissen alle drei, die zwar, wie alle Reisen, irgendwann enden wird, nur weiß keiner so recht, wann, wo oder wie.

Jess erreicht den Pickup und zieht verzweifelt an der verschlossenen Tür. Ich taste nach dem Griff, um sie zur öffnen. Jess steigt ein und schiebt sich auf den engen Rücksitz neben Sokrates, und erst jetzt rollt der Streifenwagen auf uns zu und bedeutet uns mit einem Blinken der Scheinwerfer, da zu bleiben, wo wir sind. Doch wir tun nichts dergleichen. 

Tommy gibt Gas, wir wenden und brausen vom Parkplatz in die Nacht hinaus. 

»Ich glaube, es ist angebracht, euch miteinander bekanntzumachen«, sage ich mit ziemlich schriller Stimme. »Jess, das ist Tommy; Tommy, Jess.«

Jess sagt kein Wort, sie schnappt nach Luft. 

Vor der Polizei wegrennen gehört jetzt wahrscheinlich zu den Dingen, die sie sich lieber eine Weile verkneifen wird. 

Als ich meine Zahnspange bekam, hat mir mein Kieferorthopäde eine Liste gegeben, auf der Stand, dass ich drei Jahre lang kein Kaugummi kauen dürfte, ABER WARUM FALLEN MIR AUSGERECHNET JETZT MEINE ZAHNSPANGEN EIN?

»Du bist das Mädchen, das einen Stuhl nach Jack geworfen hat, stimmt's?«, fragt Tommy. 

»Er hat mir alles über dich erzählt.«

»Zwei«, sage ich. »Es waren zwei Stühle. Aber nicht einen nach dem anderen … es lag eine Weile dazwischen.«

»Was mache ich bloß hier?«, fragt Jess.

Ich drehe mich auf dem Sitz um, um sie zu beruhigen. 

Doch bevor mir das gelingt, sagt Tommy »Scheiße« und tritt aufs Gaspedal. 

Im Rückspiegel sehe ich den Streifenwagen.

Das Navi brüllt: »Sich umdrehen sofort!« 

Der Zeiger auf dem Tacho bewegt sich immer weiter,

siebzig, achtzig, hundert, 

doch die Sirene bleibt hinter uns, ruft uns, will uns vom Weg abbringen. 

»Fahr langsamer«, sagt Jess.

»Sich umdrehen sofort!«

»Schalt das gottverdammte Radio an«, sagt Tommy.

»Fahr langsamer«, sagt Jess noch lauter.

»Sich umdrehen sofort!«

Mit hohem Tempo nehmen wir eine Kurve und dann noch eine, rauschen mit hundertzehn eine Gerade entlang – nur wir und das grelle Blaulicht, das die Dunkelheit abwehrt.

Alles einsteigen, bitte! 

Aber Anschnallen nicht vergessen, denn dieses Buch ist alles – nur nicht lahm! Und solange Tommy den Pickup noch tankt, kommen hier einige Infos zu deinen Mitfahrern. Denn wie deine Eltern dir sicher immer gesagt haben: Nie zu fremden Leuten ins Auto steigen! 

Der Leser lernt Jack an seinem 18. Geburtstag kennen. Während er bei Facebook online ist, überlegt Jack in seinem realen Leben offline zu gehen. Wen würde es schon stören, wenn er nicht mehr da wäre? Die Facebook-Gratulanten? Wohl kaum. 

Jack ist ein zunächst unauffälliger Junge, doch ihn quälen viele Fragen - er grübelt über den Sinn des Lebens, die Sinnlosigkeit von Facebook, die Unendlichkeit des Universums nach. Bei all den Fragen fällt es ihm schwer herauszufinden, wer er ist und wer er sein möchte. Er sucht Hilfe beim Erwachsenwerden und findet keine. Seine Mutter lernt der Leser lediglich durch ein paar SMS kennen und seinen Vater sucht Jack vergebens. Und dann soll er auf einmal selbst ein Vater sein.

Die einzige Bezugsperson in Jacks Leben ist Oma Bob. Und zu ihr macht er sich auf den Weg, um ihr das Baby zu zeigen und vielleicht auch, um bei ihr nach Antworten zu suchen. Identität(sfindung) ist daher das zentrale Motiv des Romans.

In elf Kapiteln sind die drei Teenager mit einem Baby und vielen Fragen unterwegs, nie lange an einem Ort. Zum einen weil sie auf der Flucht vor der Polizei sind, aber diese Tour spiegelt zum anderen auch die Ruhelosigkeit aller Teenager wider, die sich ausprobieren, suchen und auch finden müssen. 

Die Beziehung zur Familie allgemein und zum Vater im Speziellen spielt eine tragende Rolle. Da ist Jack, der keine Vaterfigur hat und plötzlich damit konfrontiert wird, selbst ein Vater zu sein. Und da ist auch Tommy, der Zeit und Aufmerksamkeit des Vaters will – und nicht schon wieder ein neues Auto. Und schließlich ist da Jess, die ihren Eltern gleich ganz verschweigt, dass sie schwanger ist.

Auf dem zweitägigen Roadtrip durch sein Inneres setzt sich Jack mit einem Thema auseinander, das ihn schon länger beschäftigt: der griechischen Philosophie. Mit Hilfe von Sokrates, Homer und Schicksalsgöttinnen versucht er, Antworten auf die  Fragen des Lebens zu finden. Das Potential der Leseanregung, gerade von Jungen, wird hier besonders ausgeschöpft, weil man als Leser nicht unbeteiligt auf Jack herabschaut, sondern vielmehr in wegbegleitender Art und Weise Teil hat an Jacks Suche nach Antworten auf genau die Fragen, die man sich als Junge in diesem Alter stellt. 

Das Cover ist passend zur Geschichte gestaltet und farblich sehr ansprechend; es wirkt poppig, und unternehmungslustig. Elemente wie Pickup und Kinderwagen verdeutlichen, dass es um eine Reise geht. Es kann sofort losgehen. Alle sind abfahrtbereit. Nur der Leser muss noch einsteigen. 

Die angemessen große und gut lesbare Schriftgröße erleichtert das flüssige Lesen der Kapitel. Die philosophischen Exkurse sind durch eine kursive Schrift gekennzeichnet und so in die Handlung eingeflochten, sodass der Leser den Faden nicht verliert. Der Prolog des Romans bedient sich einer zeitlichen Vorausschau auf Jack und seinen nunmehr fast erwachsenen Sohn und schon der Klappentext verrät, dass es kein Happy End in Form eines gemeinsamen Lebens von Jack und Sokrates gibt. Durch den Ich-Erzähler und die damit sehr authentische Darstellung des Protagonisten in seiner Krisensituation, wird ein hohes Maß an Identifikation erreicht. Emil Ostrovski bedient sich einer Sprache die aus der Lebenswelt der Heranwachsenden stammt und schafft es mit viel Situationskomik eine stets dynamische Handlung aufrecht zu erhalten. 

Dieses Buch sollte man vor allem deshalb lesen,

weil es nicht um das Ende geht. 

weil gerade der Weg das Ziel ist. 

weil wir auch mit Frodo und Sam unterwegs waren, obwohl wir wussten, dass der Ring bereits verloren ist. 

weil wir Katniss und Peeta in die Arena von Panem begleitet haben, auch wenn nur einer überleben sollte. 

Und auch, weil wir mit Harry Potter gekämpft und uns tapfer gegen Böse gewehrt haben, obwohl auch das Verlorene(s) nicht zurückbringen konnte.

'Wo ein bisschen Zeit ist ...' ist der erste Roman des 23-jährigen Emil Ostrovski. Dass die großen Fragen der Philosophie zum Thema des Protagonisten Jack werden, verwundert nicht, wenn man weiß, dass der Autor ein abgeschlossenes Studium in Philosophie hat. Intertextuell erinnert das Roadmovie an Herrndorfs Tschick. Auch hier begeben sich von Familie und Gesellschaft ignorierte Heranwachsende auf eine Reise. Nicht um der Ankunft willen, vielmehr wegen des lehrreichen Weges.

Die Suche nach der eigenen Identität ist etwas, mit dem sich junge Heranwachsende auseinandersetzen müssen. Verlässt man den „Schonraum Elternhaus“, fängt man ganz automatisch an, sich mit seinem eigenen Leben in einer längerfristigen Perspektive auseinanderzusetzen. Die Geschichte über die Ausnahmesituation Jacks beeindruckt mit ihren tiefgründigen Exkursen in die Welt der Philosophie, aber auch durch leichte Momente voller Situationskomik. Sie nimmt die Heranwachsenden mit ihren Ängsten und Nöten dabei stets ernst und zeichnet insgesamt einen sehr realistisch anmutenden Weg eines jungen Mannes zu sich selbst. Die Bedeutung von Freundschaft und Verantwortung für das eigene Leben, aber auch für das Leben anderer, schwingt so nebenbei mit und am Ende der Geschichte, wenn ‘Wo ein bisschen Zeit ist ...‘ und somit die Fahrt endet, kommt man ans Nachdenken. Man braucht einen Moment, um wieder auszusteigen, aber man wird nicht bereuen, mitgefahren zu sein. 

Der Roman ‘Wo ein bisschen Zeit ist ...‘ wird viele junge Leser durch seine aktuelle Thematik ansprechen. Gerade philosophisch interessierte Leser, die sich bisher vielleicht noch nicht an 'klassische Fachliteratur' herangetraut haben, werden nicht enttäuscht werden. Auch die Darstellung der Formen von Freundschaft kann ein bestärkender Faktor für die Lesemotivation von jungen männlichen Lesern sein. Dass Emil Ostrovski mit Jack eine Figur geschaffen hat, die Interesse und Sympathie weckt und von der Leser lernen können, hat die Jugendjury zum Deutschen Jugendliteraturpreis 2015 dazu veranlasst, den Roman zu nominieren. Der Roman bietet viele Anknüpfungspunkte zu Themen wie Freundschaft, ungewollte Elternschaft, Sinn des Lebens oder Abschiede, die viele Diskussions- und Reflexionsebenen für Fragestellungen an das eigene Leben eröffnen.