Buchcover Morton Rhue: No Place no home

Dan Halprin ist 17 Jahre alt und als Pitcher der Baseballmannschaft seiner Schule äußerst beliebt....

Rezension von Annette Kliewer

Dan Halprin ist 17 Jahre alt und als Pitcher der Baseballmannschaft seiner Schule äußerst beliebt. Da verwundert es auch kaum, dass Talia, das schönste Mädchen der Schule, seine Freundin ist und auch seine anderen Freunde zur besseren Gesellschaft gehören. Doch Dan birgt ein Geheimnis, welches er nicht mehr lange vertuschen kann...

BuchtitelNo place no home
AutorMorton Rhue (aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Katarina Ganslandt)
GenreGegenwart & Zeitgeschichte
Lesealter14+
Umfang285 Seiten
Edition1. Auflage 2013
VerlagRavensburger Buchverlag
ISBN978-3473401000
Preis14,99 €

Dan Halprin ist 17 Jahre alt und als Pitcher der Baseballmannschaft seiner Schule äußerst beliebt. Da verwundert es auch kaum, dass Talia, das schönste Mädchen der Schule, seine Freundin ist und auch seine anderen Freunde zur besseren Gesellschaft gehören. Doch Dan birgt ein Geheimnis, welches er nicht mehr lange vertuschen kann: seine Eltern sind beide arbeitslos und der Familie droht der Verlust der bürgerlichen Existenz. Als die Familie nach einem kurzen Aufenthalt bei dem Bruder der Mutter nach "Dignityville" ziehen muss, einer Zelt-Unterkunft für Obdachlose, versucht Dan es vor seinen Freunden zu verbergen, was ihm aber nur kurzzeitig gelingt. Zunächst hasst er seine Eltern für ihr Scheitern, weil es ihnen nicht gelungen ist, den Absturz aus der Mittelschicht zu verhindern, im Laufe der Zeit verändert er sich selbst aber und überwindet eigene Vorurteile.

"Es führte kein Weg daran vorbei. Ich musste es [Noah] sagen. 'Wir sind am Wochenende umgezogen.' 'Schon wieder? Wohin denn?' Ich blieb stehen. Die Tage wurden kürzer und im kalten, trockenen Wind konnte man schon den nahenden Herbst riechen. 'Schwör mir, dass du …', begann ich, aber dann biss ich mir auf die Zunge. Was sollte der Quatsch? Früher oder später würden es sowieso alle erfahren. Noah sah mich abwartend an. 'Dignityville.' Ganz egal, wie oft Aubrey behauptete, dass wir dort Pioniere eines neuen Lebensstils waren, ich empfand es als unglaublich erniedrigend, den Namen meines neuen Wohnorts laut aussprechen zu müssen. Ich – Dan Halprin – war jetzt offiziell obdachlos." (S. 111)

Morton Rhues Romane sind in Deutschlands Schulstunden Kult oder Kanon, vor allem "Die Welle" und "Ich knall euch ab" haben sich diesen Status schon lange erkämpft, weniger bekannt sind "Stille über uns", "Fame Junkies" oder "Boot camp".  Der vorliegende Roman könnte wieder zu einem Klassiker werden: Auch in "No Place, no home" wird ein aktuelles gesellschaftspolitisches Thema aufgegriffen, das die USA bewegt, das aber in der Jugendliteratur noch recht selten bearbeitet wurde: Es geht um die durch die Wirtschaftskrise provozierte Massenarmut, die auch Menschen aus der Mitte der Gesellschaft treffen kann. Morton Rhue (alias Tod Strasser) schreibt Bücher, die die amerikanische Wirklichkeit in ihrer klaren Kritik auf den Punkt bringen oder wie es in der Vorstellung des Autors durch den Verlag heißt: "Seine Romane schockieren und berühren gleichermaßen durch ihren ungeschminkten Blick auf die amerikanische Wirklichkeit und durch ihre direkte Sprache." Rhue gelingt eine differenzierte Sicht auf die verschiedenen Reaktionsweisen auf die Armut: Während Dan verzweifelt, sucht die Mutter Halt im "Positiven Denken", im Yoga und in kleinen Alltagsinitiativen, wendet sich der Vater kriminellen Machenschaften zu, um seine Familie zu retten, engagieren sich andere politisch, indem sie versuchen, aus "Dignityville" ein gesellschaftliches Modell des neuen Zusammenlebens zu machen. Weniger gut ist, wie die Gegner dargestellt werden, zu einfach ist hier die Schwarz-Weiß-Zeichnung und die, die noch versuchen, ihre eigene Haut zu retten, indem sie die Stadt von den Obdachlosen säubern lassen, werden in ihrer Existenzbedrohung nicht immer ganz ernst genommen: "Ich muss Ihnen nicht sagen, welche Auswirkungen das auf das Image unserer Stadt im Allgemeinen und die Grundstückspreise im Besonderen hat." (S. 138) Besonders überzeugend ist dagegen, wie Rhue das langsame Entgleiten von Dan aus der Alltagsrealität seiner Freunde beschreibt. Besonders deutlich wird dies, wenn Dan davon erzählt, wie er an einem Tag mit seiner Clique für die "Armen" von Dignityville ehrenamtlich kocht und am nächsten Tag selbst zu den Empfängern dieser Armenspeisung wird (S. 96). Auch die Beziehung zu seiner Freundin verliert nach und nach an Intensität dadurch, dass beide ein unterschiedliches Leben haben und Dan immer weniger vermitteln kann, wie wenig er sich zugehörig fühlt. Deshalb nähert er sich Meg an, die er sowohl in der Schule sieht, die aber auch in Dignityville lebt. Im Laufe des Romans wird er reifer, er macht sich Gedanken über seine eigenen Ziele und die Möglichkeiten, diese zu erreichen. Dan, der sich nie für politische oder sozialkritische Fragen interessiert hat, muss langsam seine Vorurteile über die Menschen in Dignityville über Bord werfen. Er merkt, dass hier auch Menschen leben, die arbeiten, aber mit ihrem Verdienst nicht auskommen, die unter der fehlenden medizinischen Versorgung in den USA leiden: "Es fiel mir immer noch schwer, zu glauben, dass es tatsächlich Leute gab, die einen Vollzeitjob hatten und trotzdem so wenig verdienten, dass sie sich kein eigenes Zuhause leisten konnten." (S. 114f.) Zwar kommt es weiter darauf an, persönliche Initiativen zu entwickeln, doch das gesellschaftliche Umfeld kann allzu schnell Menschen in den Absturz führen.

Morton Rhue begründet in einem Interview für die Radiosendung "Büchermarkt für junge Leser" am 18.4.2014 sein Buch mit folgenden Worten: Dan "entwickelt viel mehr Sympathie für Leute, die nicht so viele Möglichkeiten haben, wie er. Und das ist auch der Grund, weshalb ich dieses Buch geschrieben habe, ich möchte, dass junge Leute in den USA dieses Gefühl entwickeln. Keine Frage, Dan hat Glück, er hat immer noch die Chance zur Universität zu gehen. Ich denke, er wird erwachsen werden und es wird alles gut. Aber er wird viel mehr Sensibilität für die Schwierigkeiten anderer Menschen entwickeln. Das ist ein Problem in den USA, dass wirklich nicht viele Menschen verstehen, wie viel Armut es in den USA gibt. Fast ein Drittel aller Menschen in den USA leben in Armut oder hart am Existenzminimum. Aber wir sehen sie nicht Tag für Tag oder wir sind immun dagegen. Ich denke, die Menschen müssen verstehen, dass das eine gigantische Anzahl von Leuten ist."
(www.deutschlandfunk.de/jugendbuecher-von-abstieg-und-armut-vieler-kinder-in.1202.de.html)

Rhues Stil ist gekennzeichnet durch eine einfache, ja manchmal fast spröde Sprache, die aber gerade Lesern, die "auf den Punkt" kommen möchten, gefallen kann. Dies und auch die Identifikationsmöglichkeit über den sympathischen und durch eigene Leistungen erfolgreichen Dan, könnte den Roman für männliche Leser geeignet machen. Die eingefügte Krimihandlung ist ambivalent zu bewerten: Zum einen macht sie die Handlung ein wenig spannender, man versucht herauszubekommen, wer denn nun in Dignityville zum Verräter geworden ist. Andererseits sind die Hinweise auf den Täter in den  Zwischentexten, die die Telefongespräche zwischen ihm und seinen Mittätern aufgreifen, zu offensichtlich, so dass die Spannung nicht lange besteht. 

Für den Deutschunterricht interessant sind intertextuelle Bezüge des Romans zu zwei Klassikern der amerikanischen Literatur: Zum einen zitiert Dan selbst immer wieder John Steinbecks  Früchte des Zorns (1939), das die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die Menschen beschreibt, die in Kalifornien "zusammen mit anderen Opfern der damaligen Weltwirtschaftskrise in einer sogenannten 'Lumpenstadt' unterkomm[en]." (S. 91). Ähnlich explizit sind die Hinweise auf  auch Tennessee Williams' Theaterstück Endstation Sehnsucht: "In dem Stück kommt eine Frau namens Blanche DuBois vor, die aus einer Familie stammt, die früher mal reich war, mittlerweile aber vollkommen verarmt ist. Am Ende wird sie verrückt, kommt in eine Irrenanstalt und bildet sich ein, dass sie bald von ihrem Millionärsfreund abgeholt wird und mit ihm eine große Reise unternimmt. Ich lebe in einem Zelt, nehme an der kostenlosen Schulspeisung teil, lasse meine Freundin für mich zahlen und bilde mir tatsächlich immer noch ein, ich wäre NICHT arm?" (S. 190) Diese Bezüge zur Literaturgeschichte freuen den Deutschlehrer, sind für die meisten Leser aber nicht relevant. Es könnte trotzdem sein, dass "No Place, no home" bald den Kanon-Status von "Die Welle" in Deutschland bekommen könnte, die dargestellte Konstellation, die Zeitlosigkeit des Dargestellten und seine literarische Qualität könnte deutschen Lehrern gut gefallen. Durch Kooperation mit dem Religions- bzw. Ethikunterricht sowie mit dem Sozialkundeunterricht können Fragen von Armut und Reichtum, von "gerechter Verteilung" und Wirtschaftskrisen am Roman gut aufgearbeitet werden, komplexe Zusammenhänge können so für die Schüler konkret nachvollziehbar werden.