Buchcover Michael Sieben: Das Jahr in der Box

Was für ein Jahr! Und nun muss Paul, der bei seiner Mutter Bille lebt, schon wieder umziehen und...

Rezension von Ina Brendel-Kepser

Die Box ist eine Schatulle in Pauls Besitz und enthält bedeutsame Gegenstände, die ihn an das vergangene Jahr erinnern: an all das, was er zusammen mit seinen Freunden Ken, Mehmet und der Sprayerin Mara erlebt hat. Da gab es krasses Mobbing, verrückte Aktionen und vor allem einen tragischen Todesfall. Paul erzählt eine fesselnde Geschichte, in der viele Geheimnisse nach und nach enthüllt werden.

BuchtitelDas Jahr in der Box
AutorMichael Sieben
GenreComing of Age
Lesealter14+
Umfang256
VerlagCarlsen
ISBN9783646926767
Preis16,00

Was für ein Jahr! Und nun muss Paul, der bei seiner Mutter Bille lebt, schon wieder umziehen und Opas alte Villa verlassen. Beim Packen stößt er auf die Box, die Andenken an das vergangene Jahr enthält – sich diesen Erinnerungen zu stellen ist eine mehr als schwierige Aufgabe, die ihn mehrfach zu überwältigen droht. Denn neben den fiesen Mobbingattacken durch einige Klassenkameraden, den reichen Schnösel Wieland und seine Schlägertruppe, hat Paul mit den beiden schrägen Außenseitern Mehmet und Ken auch echte Freunde gefunden und einige aufregende Abenteuer wie den Besuch des einsturzgefährdeten gesperrten Sanatoriums am Stadtrand erlebt. Außerdem hat er die Sprayerin Mara kennengelernt, der er bei einer illegalen Aktion zur Flucht verhilft und in die er sich verliebt. All diese Ereignisse werden überschattet von einem mysteriösen Unfalltod, den Paul miterlebt hat und an dem er sich mitschuldig fühlt. Die Episoden des vergangenen Jahres enthüllen sich in Pauls Erinnerungen nach und nach und erst ganz am Schluss erfährt der Leser, dass es sich bei dem Jungen, der ums Leben gekommen ist, um Mehmet handelt.

Eine Leseprobe kann hier eingesehen werden.

Der Roman von Michael Sieben stellt dem Leser einen jugendlichen Protagonisten vor, der mit typischen Jugendproblemen zu kämpfen hat. So scheint es auf den ersten Blick, als habe man es mit einer realistisch-problemorientierten Adoleszenzgeschichte zu tun. Das Jahr in der Box bietet aber viel mehr. Denn Paul öffnet die geheimnisvolle Box und rollt anhand von Erinnerungsobjekten wie einem Springmesser, einer Sonnenbrille, Kondomen, Kinokarten und einigen anderen Gegenständen das vergangene Jahr auf; ein Jahr, in dem viel Aufregendes, Ungewöhnliches und Tragisches passiert. Im Mittelpunkt stehen drei sympathische und durchaus coole Außenseiter: Paul, der das U-Bahn-Netz von Berlin auswendig kennt und Superheldengeschichten schreibt, der übergewichtige und verlässliche Mehmet und der schmächtige Ken mit seinen flotten Sprüchen. Als Gruppe von MoFs (Menschen ohne Freunde) finden sie zueinander, werden ein eingeschworenes skurriles Team aus engen Freunden, die sich in brenzligen Situationen beistehen und es so immer wieder schaffen, sich gegen die brutalen Übergriffe und Bloßstellungen ihrer Peiniger aus der Wieland-Clique zu wehren. Hinzu kommt Mara, die als Sprayerin und selbsternannte Wicker City Queen nachts überall ihre feministischen Botschaften hinterlässt und damit ebenfalls eine interessante, genderuntypische Figur darstellt. Wie die Erlebnisse, Gedanken und Gefühle der Jugendlichen über den Ich-Erzähler Paul, eine unangepasste und mutig agierende Identifikationsfigur für junge männliche Leser, vermittelt werden, wirkt glaubhaft; der Autor trifft den schnoddrigen Ton der Jugendsprache, der oft voller ironischer Wendungen, trockenem Humor und Witz ist, ziemlich gut, Grinsen garantiert!
Erzählt wird die Geschichte auf zwei Zeitebenen: An die Kapitel, die im Heute spielen und auch diesen Titel tragen, schließen sich Rückblicke an, die sich mit den Fundstücken aus der Box als teilweise traumatische Erinnerungen an vergangene Erlebnisse aufdrängen. Gleichzeitig werden immer wieder Andeutungen eingestreut, die neugierig machen und eine dunkle Vorahnung erzeugen. Dass ein Mitschüler ums Leben gekommen ist,  erfährt der Leser relativ am Anfang – nicht jedoch wie und wo das Unglück passiert, und vor allem die drängende Antwort auf Frage danach, wer verunglückt ist, wird lange aufgeschoben. Dass es sich um Mehmet handelt, der eigentlich Marko heißt, ist die überraschende und zugleich bestürzende Wendung am Ende der Geschichte.
Die Anlage mit Rückblenden und dem aufgeschobenen Geheimnis um einen mysteriösen Todesfall macht die Spannung der Geschichte zu einem großen Teil aus. Gleichzeitig verlangt diese Struktur einen Leser, dem es gelingt, zwischen diesen Zeitebenen immer wieder hin und her zu springen und dabei den roten Faden nicht zu verlieren. Denn neben der Geschichte um das vergangene Jahr nimmt auch die Erzählung auf der Gegenwartsebene Fahrt auf und der Leser verfolgt im Hier und Heute, welche weiteren Verwicklungen die Figuren erleben. Dass Mehmet dabei nicht mehr zu Wort kommt, fällt dem Leser allerdings erst im Nachhinein auf.
Das Jahr in der Box ist ein Roman, der einen zweiten Blick unbedingt verdient. Ein etwas leiserer, aber umso stärkerer Roman, kein richtiges Lesefutter, aber ein sprachlich gut lesbarer und Jungen (und Mädchen) auf vielfache Weise ansprechender Text, der auch das Potenzial zur Klassenlektüre hat. Das grafisch gestaltete Cover mit den geprägten Buchstaben in reduzierter Farbgebung zeigt einige der maßgeblichen Gegenstände, die alle ein Geheimnis bergen, das es zu entdecken lohnt.

Der Roman, der auch als EPub vorliegt, eignet sich für freie Lesezeiten und als Klassenlektüre. Im fächerübergreifenden Unterricht mit Ethik oder Religionslehre lassen sich die Themen des Erwachsenwerdens, der Identitätsfindung im Jugendalter und der Wertebildung aufgreifen. Zudem können die Schüler*innen in kreativen Schreibanlässen darüber nachdenken, welche Gegenstände ihre eigene Box enthalten würde und welche Geschichten sich damit erzählen bzw. erfinden lassen.