Buchcover Jason Reynolds: Long way down

Wills Bruder wird erschossen. Auf offener Straße. Überraschend ist das im Gangsta-Milieu zwar nicht,...

Rezension von Barbara Reidelshöfer

Soll der sechzehnjährige Will die Ermordung seines Bruders rächen?  Gerechtigkeit, Verlust, Trauer, Gewalt, Familie, Hoffnungslosigkeit, Zukunft und Vergangenheit – um diese großen Themen dreht sich der atemlose und eindringliche Versroman, der den Leser mit enormer sprachlicher Kraft in einen Fahrstuhl Verstorbener und in die Gedanken- und Gefühlswelt eines verzweifelten Jugendlichen mitnimmt. Ein erschütterndes Leseerlebnis, das noch lange nachhallt.

BuchtitelLong way down
AutorJason Reynolds
Lesealter14+
Umfang314
Verlagdtv, Reihe Hanser
ISBN978-3-423-65031-1
Preis14,95

Wills Bruder wird erschossen. Auf offener Straße. Überraschend ist das im Gangsta-Milieu zwar nicht, aber es ändert nichts an der großen Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und Leere, die Will erlebt. Aber drei Regeln geben ihm Halt und sind ein Kompass für sein Handeln: Niemals weinen. Niemanden verpfeifen. Rache üben.
So gibt es scheinbar keine Alternative für Will, denn diese Regeln gelten in seiner Community unhinterfragt. Für ihn ist in seinem Schmerz nur eines klar: Er muss und wird den Mörder seines Bruders töten.
Er verlässt in tiefem Schock und Trauer fassungslos die Wohnung, um das Unausweichliche zu tun. Mit der Waffe seines Bruders steigt er in den Fahrstuhl. Eine Minute im Fahrstuhl. Zeit, um zu überlegen, ob diese Regeln wirklich auch für ihn gelten müssen. Ob Selbstjustiz nicht die falsche Entscheidung ist. Eine Entscheidung, die die Spirale der Gewalt immer weiter anheizen wird, der er in letzter Konsequenz selbst zum Opfer fallen wird und die letztlich nichts zum Positiven verändern wird. Aber wie kann man gegen Regeln sein, die einen das Leben lang begleitet haben? Mit denen man aufgewachsen ist? Die das gesamte Umfeld befolgt? Eine Minute im Fahrstuhl. Eine Minute voller turbulenter Gefühle und Gedanken. Aber auch eine Minute mit sechs Begegnungen. Sechs Begegnungen mit Toten, mit Erinnerungen an Hass, Gewalt, Ohnmacht und Rache. Sechs Begegnungen, die die Regeln in Frage stellen. Aber die Regeln sind die Regeln, sie sind das einzige, an dem Will sich noch festhalten kann. Welche Entscheidung wird Will treffen, wenn er im Erdgeschoss, mit Waffe am Hosenbund, aussteigt?

"Wahrscheinlich/wirst du sie auch nicht glauben/wirst denken/ich lüge/oder ich dreh durch/ aber glaub mir/ die Story ist wahr./Sie ist mir passiert/ Ist wirklich passiert/ Wirklich." (S 9) – so spricht der Erzähler den/die Leser*in direkt an und zieht ihn/sie auch schon hinein in die „echte“ Geschichte des schwarzen Jugendlichen Will, die mit dem von Gewalt und Hass geprägten Gangsta-Milieu wohl ein Gegenpol zu der Realität der meisten Leser*innen bilden dürfte. Aber zusätzlich zu diesen irritierenden Fremdheitserfahrungen bietet der Roman viel Identifikationspotential, da mit dem Verlust des Bruders und dem Entscheidungskonflikt Wills universale Gefühle und Gedanken des Erwachsenwerdens thematisiert werden, die jede*n Heranwachsende*n beschäftigen.
Die dichte kammerspielartige Inszenierung fokussiert sich der Roman ganz auf seinen Protagonisten.  Mit Will schafft Jason Reynolds eine Figur, die Leser*innen jeden Milieus ansprechen wird und dessen Geschichte nicht nur nachvollziehbar, sondern in all seinen Irritationen und Extremen erlebbar macht.
Der innere Konflikt Wills, der sich darum dreht, ob er seinen Bruder gemäß der geltenden Regeln rächen muss oder sich diesen widersetzen sollte, entwickelt einen mitreißenden, atemlosen Sog. Dieser wird vor allem durch die sprachliche Gestaltung des Romans evoziert. Die Form der freien Verse kann bei leseunerfahrenen Jugendlichen vielleicht zunächst zu Verunsicherung oder gar Ablehnung führen. Allerdings stellt die besondere sprachliche Gestaltung auch eine Brücke für Jugendliche mit weniger Leseerfahrungen dar: Die Nähe zu Rap- und Hiphop-Rhythmik, die direkte Leseransprache, die zumeist sehr einfache, präzise Sprache und die Unmittelbarkeit des Vokabulars sowie die auch grafisch ansprechende, klare und überschaubare Strukturierung des Romans in sehr kurzen Kapiteln, die manchmal nur einen Satz lang sind, erleichtern den Zugang zum Text enorm, sodass die Barriere wohl  nur in der ersten – falschen – Wahrnehmung als vermeintlich schwer zugängliche Lyrik besteht.
Für Lesegeübte bietet der Text jedoch genügend Herausforderungen, denn die Sprache besticht neben ihrer Einfachheit eben auch in einer poetischen Bildsprache und einem Changieren zwischen verschiedenen Sprachniveaus. Wahrzunehmen, wie kunstvoll und poetisch dicht diese Sprache komponiert ist und dass sie auf vielen Ebenen entschlüsselbar ist, bereichert das Leseerleben.
Gerade dass die vermeintlich einfache Struktur des Kammerspiels durch die verschiedenen Begegnungen mit toten Freunden und Verwandten Wills ein immer komplexeres Bild seiner Realität entstehen lässt, fasziniert beim Lesen und ist ein grandioses Beispiel für Magischen Realismus im Jugendbuch.
Die Hauptfigur Will kommt dem Lesenden ganz nah, obwohl sie manchen Leser*innen aufgrund von Milieu, Hautfarbe, Status eher fremd sein dürfte. Schon durch die direkte Leseransprache gleich zu Beginn des Romans wird man herausgefordert, seine eigene Meinung zur Problematik zu entwickeln und im Verlauf der Handlung immer wieder zu hinterfragen. Will wird als Jugendlicher gezeichnet, der in einem brutalen Milieu zu einem Rächer werden kann, was die Mechanismen der Selbstjustiz und immer schneller drehenden Gewaltspiralen nachvollziehbar macht. Je mehr der innere Konflikt voranschreitet, je mehr Figuren aus Wills früherem Leben im Fahrstuhl mit ihm sprechen, desto enger wird die Identifikation mit ihm. Immer mehr fiebert man mit Will mit und hofft, dass er am Ende die „richtige“ Entscheidung treffen wird.

Neben der mitreißenden Handlung und der sensibel gezeichneten Hauptfigur Will ist es gerade die Form freier Verse und die poetisch-dichte, dabei gleichzeitig aber leicht zugängliche Sprache von „Long way down“, die diesen Roman zu einem absoluten „Meisterwerk“ (Zitat Jugendbuchautorin Angie Thomas) machen.

Der Roman ist für alle Formen der Leseförderung geeignet.

Als Privatlektüre wird es vermutlich eher leseerfahrene Schüler*innen ansprechen, allerdings können durch entsprechende Vermittlung und Leseanimation gerade auch leseschwächere Zielgruppen von der Lektüre des Romans profitieren.

Besonders geeignet ist der Roman für jede Form der offenen schulischen, aber auch außerunterrichtlichen Leseförderung. Als Angebot in Lesekisten bei Book-Slams, Book-Datings oder für Buch-Präsentationen sollte es unbedingt eingesetzt werden. Ebenso darf es in keiner (Schul-)Bibliothek fehlen.

Vorstellbar ist es auch, diesen Roman in eher offenen Lesearrangements im Deutsch bzw. Englischunterricht z. B. zu unterschiedlichen Themenkomplexen („Rassismus“, „Gewalt“, „Selbstjustiz“, „Soziale Milieus“, „Familie“) einsetzen.

Darüber hinaus kann man den Roman sehr gut für eine vertiefte Lektüresequenz im Deutsch- oder auch Englischunterricht einsetzen, da er aktuelle Themen mit literarischem Anspruch verknüpft - ohne dadurch für Leseungeübte „unlesbar“ zu sein. Der Einsatz des Hörbuchs, das laut Verlagsbeschreibung v.a. versucht, die Rhythmisierung und die Ähnlichkeit zu „spoken word“ / Poetry Slam / Hip Hop und Rap herauszuarbeiten, scheint zielführend.
V.a. die im Internet zu findenden Angebote der semi-professionellen Booktrailer können gut rezeptiv eingesetzt werden, um Lesemotivation aufzubauen, oder als Ansporn für eigene Produktionen zu dienen.
Neben einem Einsatz im Fachunterricht ist ein fächerübergreifender Projektunterricht zu den Themen „Rassismus und Gewalt“ oder auch „Soziale Milieus und Gewalt“ denkbar.