Buchcover Tom Limes: Voll verkackt ist halb gewonnen

Wir befinden uns in einer sogenannten Maßnahme für schulpflichtige Jugendliche, die aus...

Rezension von Alexei Medvedev

Solche Typen nennt man Loser, Schulversager oder Plüschohren:

Sie sind von der Schule geflogen und in einer der „Maßnahmen“ gelandet, um irgendwie den Anschluss zu finden. Julian, Liza, Tariq und Max haben keine Illusionen und versuchen mit der Situation klarzukommen - jeder auf seine Art und Weise. Aus vier Einzelgängern wird irgendwann ein Team, das ein Ziel hat: Der Umwelt zu zeigen, warum sie in der Schule keine Chance hatten und dass sie noch Träume haben können. Dafür greifen sie zur Videokamera...

BuchtitelVoll verkackt ist halb gewonnen
AutorTom Limes
GenreComing of Age
Lesealter14+
Umfang256
VerlagArena Verlag
ISBN978 3 401 60463 3
Preis12,00

Wir befinden uns in einer sogenannten Maßnahme für schulpflichtige Jugendliche, die aus verschiedenen Gründen mit der Schule nicht klarkommen. Im Zentrum des Romans stehen vier Protagonist*en: Julian, ein tiefenentspannter Null-Bock-Teenager aus einer wohlhabenden Familie, dem akut ein Rausschmiss aus der elterlichen Wohnung droht, Liza, eine verträumt-romantische und künstlerisch begabte Natur mit Tourette-Syndrom, der Spaßvogel Tariq, der zwischen seiner konservativen Familie und seinen Berufsträumen lavieren muss und Max, ein Post-Punk-Rebell, der Schulen als Machtinstitutionen partout ablehnt und dies immer wieder unmissverständlich zum Ausdruck bringt. Der Roman ist aus der Ich-Perspektive von Julian und Liza verfasst, deren Stimmen sich abwechseln.

Alle vier Jugendlichen sind unabhängig voneinander in der Maßnahme gelandet, gegensätzliche Charaktere, die zu Beginn miteinander nichts anzufangen wissen. Jeder hält die anderen für bekloppt. Doch allmählich lernen sie sich immer besser kennen und verstehen, dass trotz der ganzen äußeren Unterschiede sie alle genug verbindet, um zusammenzuhalten. Das gemeinsam erlebte Scheitern im Schulsystem, was jeder sehr unterschiedlich verarbeitet, macht sie im Laufe des Romans zu einem Team, dem es darum geht, der Schule und der Welt der „Leistungsträger“ deutlich zu machen, dass dieses Scheitern in ihrem Fall vorprogrammiert war.

Gleichzeitig macht der Autor seine Figuren nicht zu schutzlosen Opfern, die unter die Räder des (Schul-)Systems kommen. Nein, sie alle sind individuelle Typen und wissen, sich zu wehren, was das mutige Videoprojekt überzeugend zeigt. In diesem Video erzählen sie die Geschichte ihres Scheiterns und zeigen die Schattenseite der Schule und der Lehrkräfte, die auch diskriminierend und missbrauchend sein können. Im Laufe dieses Projekts stellen die Vier fest, jede*r für sich, dass auch sie Träume, Pläne und Ideen haben. 

Eine Leseprobe kann hier eingesehen werden: bit.ly/2NkVMlq

Tom Limes arbeitet seit über 20 Jahren mit Kindern und Jugendlichen, die unsere Gesellschaft als Schulverweigerer abstempelt und in eine der unzähligen „Maßnahmen“ steckt. Diese Maßnahmen sollen als zweite Chance begriffen werden, den schulfrustrierten Jugendlichen doch irgendwie zu einem Schulabschluss zu verhelfen.

Das Setting von „Voll verkackt ist halb gewonnen“ – eine solche Maßnahme als Sammelbecken für „Loser“ – ist hochspannend und als Topos für Charakterstudien fruchtbar. Das Buch steht thematisch in einer Reihe mit „Tschick“ und „Halbe Helden“, was auf den ersten Blick eine hohe Erwartungshaltung schürt. Tom Limes gelingt es vor allem inhaltlich – dank seiner langjährigen pädagogischen Erfahrung – diesen hohen Anforderungen zu genügen und er holt die jugendlichen Leser in ihrer Lebenswelt ab.

Was die Romansprache angeht, wirkt sein Können weniger überzeugend. Mein größter Kritikpunkt ist die multiple Erzählperspektive des Romans, indem sich der/die Ich-Erzählerin in jedem Kapitel abwechselt. Es hätte unter anderen Umständen einen starken stilistischen Effekt erzielen können, aber die verschiedenen Erzählperspektiven sind leider nicht differenziert genug ausgearbeitet. Limes verwendet einen gleich klingenden Schreibstil, der auf jeder Seite den Leser eher an den „allwissenden Autor“ denken lässt – und weniger an die Stimme einer Liza oder eines Julian.

Der Roman ist auch nicht ganz frei von einigen Klischees. Zum Beispiel wird durch die Figur von Tariq das Thema „Männerberufe“ für „türkische Jungs“ angesprochen. Die Darstellung von Tariqs Familie hätte weniger stereotypisierte Darstellungen enthalten können, selbst wenn jeder von uns vermutlich so eine Familie schon mal erlebt hat. Aber im Großen und Ganzen ist es eine gelungene Sujetlinie, ebenso wie Limes‘ glaubwürdige Auseinandersetzung mit dem Thema Tourette-Syndrom am Beispiel der Figur der Liza.

Trotz einzelner Kritikpunkte gelingt es Limes in „Voll verkackt ist halb gewonnen“, völlig unterschiedliche Typen, die nur per Zufall in einer Gruppe sind und zu Beginn miteinander nichts zu tun haben, glaubhaft in Szene zu setzen. Das gemeinsam erlebte Scheitern im Schulsystem, was sie übrigens sehr unterschiedlich verarbeiten, macht sie im Laufe der Handlung zu Komplizen und einer Solidargemeinschaft, der es auch darum geht, der Welt der leistungsstarken, abigeilen und karriereorientierten Schnösel zu beweisen, dass sie nicht allein dieses besagte Scheitern verursacht haben. Der Roman setzt damit ein wichtiges Leitmotiv der deutschen Literatur fort: die Figur des Lehrers als Übeltäter - man denke nur an Heinrich Mann und Hermann Hesse - und hinterfragt kritisch den Zusammenhang der Dinge im System Schule: Ein guter Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit literarischer Art.

Der Titel ist salopp provokativ, genauso wie das neongrelle gelbe Cover dieses Romans. Die Message, die daraus zu lesen ist, kann man auch fast philosophisch interpretieren: Wer bestimmt, was ein Scheitern ist? Und wer außer mir entscheidet, was für mich cool ist und was eine schiefe Laufbahn? Fragen, die sich auch die im System Arrivierten immer mal wieder stellen sollten. 

Dank seiner gesellschafts- und schulkritischen Ausrichtung und des fairen Preises von 12 Euro eignet sich der Roman gut als Klassenlektüre sowohl für den Deutsch- und Literaturunterricht als auch für das Fach Politik/Gesellschaftskunde. Der Roman setzt sich am Beispiel der vier Protagonisten mit den Themen soziale Ungleichheit, schulische Selektion, Bildungslaufbahn und Lebensentwürfe auseinander, die in der heutigen deutschen Gesellschaft sehr aktuell sind. Somit ist der Roman ein guter literarischer Beitrag zur schulischen Selbstreflexion, verlangt allerdings von den Lehrkräften eine entsprechend reflexiv-kritische Haltung dem „eigenen“ System gegenüber.