Buchcover Kayla Ancrum: Wicker King

Jack und August sind seit Kindertagen befreundet. Obwohl sie in der Schule zu unterschiedlichen...

Rezension von Ines Heiser

Wenn du nicht mehr weißt, was real ist und Freundschaft zu einem dunklen Ort wird… August kennt Jack seit Kindertagen – aber plötzlich sieht der eine fantastische Welt, die für August nicht zu erkennen ist. Und die Anforderungen, die ihre Bewohner an Jack stellen, werden immer riskanter, bis August selbst nicht mehr weiß, was die Prophezeiung über den Cloven King bedeutet und wie er Jack am besten die Freundschaft halten soll. Ein Roman mit außergewöhnlichem Layout, der ein wichtiges Thema sensibel anspricht.

BuchtitelWicker King
AutorKayla Ancrum
GenreComing of Age
Lesealter14+
Umfang313
Edition1. Auflage
Verlagdtv
ISBN978-3-423-76233-5
Preis16,95

Jack und August sind seit Kindertagen befreundet. Obwohl sie in der Schule zu unterschiedlichen Cliquen gehören, verbringen sie ihre Freizeit regelmäßig gemeinsam. Den erfolgreichen und beliebten Sportler Jack verbindet mit dem heimlich dealenden Außenseiter August, dass beide von ihren Eltern vernachlässigt werden und weitgehend allein für ihr Leben verantwortlich sind. Ihr Alltag wird zunächst von typischen Jugendthemen, wie Hobbys, Partys und Beziehungen zu Mädchen bestimmt. Doch plötzlich beginnt Jack, sich zu verändern: Er nimmt eine zweite, mythisch-mittelalterliche Welt wahr. In dieser Welt ist Jack der heilbringende Wicker King, dessen Bestimmung es ist, mithilfe des Glückseligen Blaus die Bevölkerung vor dem bösen Cloven King zu beschützen. Alle näheren Bekannten, die davon erfahren, raten August dazu, Jack psychiatrisch untersuchen zu lassen. August entscheidet sich aber stattdessen dafür, Jacks Fantasien zu teilen; er hofft, seinen Freund auch ohne ärztliche Hilfe aus der Traumwelt befreien zu können. Traum und Realität verschmelzen für Jack immer weiter; schließlich werden die beiden Jungen verhaftet, weil sie – um eine Prophezeiung zu erfüllen – eine stillgelegte Fabrik anzünden. Beide werden in die Psychiatrie eingewiesen; dort stellt sich heraus, dass Jacks Halluzinationen von einem Hirntumor ausgelöst werden. Dieser kann erfolgreich operiert werden. Beide erkennen, dass sie tiefere Gefühle füreinander haben und werden ein Paar.

Eine Leseprobe kann auf der Verlagsseite eingesehen werden. 

Ancrums Debütroman greift mit der Frage nach dem Umgang mit psychischen Erkrankungen ein relevantes Thema so auf, dass es für Jugendliche interessant und zugänglich wird. Sie nimmt ihre Protagonisten Jack und August ernst und stellt sie weder als bemitleidenswert noch als Freaks dar, sondern als Jugendliche, die zwar unkluge Entscheidungen treffen, sich dabei aber jederzeit selbständig dafür einsetzen, ihre Probleme zu lösen und die loyal füreinander einstehen. 

´Wicker King` beginnt mit der Verhaftung der beiden Protagonisten und erzählt anschließend in einer großen, chronologisch aufgebauten Rückblende, wie es zu den dramatischen Ereignissen kam. Damit ist die Spannung von Beginn an hoch: Man wünscht sich, zu erfahren, wie der recht angepasst wirkende August in diese missliche Lage kommen konnte. 

Die einzelnen Kapitel sind mit maximal drei Seiten sehr kurz, so dass auch langsame Leser schnell ermutigende Ergebnisse erzielen können. Dazu ist allerdings ein recht gutes literarisches Verständnis von Vorteil, da die Kapitel nicht immer direkt aneinander anschließen: Teils müssen Lücken und kleinere Handlungssprünge rekonstruiert werden; einige Kapitelüberschriften wirken rätselhaft und erklären sich auch nur bedingt aus dem Kapitelinhalt. Damit ist der Roman besonders für Personen geeignet, die zwar technische Schwierigkeiten beim Lesen haben, sich aber trotzdem für Geschichten und fiktionale Welten interessieren und – ggf. z.B. über die Rezeption anderer Medien – bereits einige Erfahrungen damit mitbringen.

Einzigartig und besonders ansprechend – wenn auch insgesamt eher düster – ist die Buchgestaltung: Jacks und Augusts Abgleiten in den gemeinsamen Wahn wird dadurch unterstrichen, dass der Schwarzanteil auf den Seiten immer weiter zunimmt, bis schließlich weiße Schrift auf schwarzem Grund steht. Jeweils auf eigenen Seiten eingefügt sind Fotos, Skizzen und Abbildungen von Schriftstücken, die für die Handlung eine Rolle spielen, z.B. von Polizeiprotokollen, Schulformularen, zwischen den Protagonisten ausgetauschten Notizen, Zeitungsausschnitten usw. Der Roman erweckt so einen quasi-dokumentarischen Eindruck, er wirkt ein wenig wie eine Materialsammlung, die zu dem Psycho-Kriminalfall angelegt wurde.

Der Protagonist August erscheint durchweg sympathisch, obwohl im Verlauf der Lektüre schon früh deutlich wird, dass es keine gute Entscheidung von ihm ist, auf ärztliche Hilfe für Jack zu verzichten. August ist gewissenhaft und großzügig, er versorgt seine Mutter, die wegen ihrer Depressionen die Wohnung kaum verlässt und er bemüht sich grundsätzlich in allen Bereichen, Erwartungen zu erfüllen und sein Bestes zu geben. Als Dealer betätigt er sich nur, weil es ihm anders nicht gelingt, den Lebensunterhalt für sich und seine Mutter zu bestreiten. Wie groß der verdrängte Druck ist, der auf ihm lastet, erkennt man auch daran, dass er schließlich immer wieder kleinere Brände legt – allerdings jeweils an Orten, an denen diese keinen größeren Schaden anrichten können. Die immer zwanghafter werdende Bindung an Jack wirkt überzeugend, da sie auf der langen, schon seit Kindertagen bestehenden Freundschaft zwischen beiden begründet ist und August wegen seiner prekären Familiensituation sonst kaum enge Bezugspersonen hat. August glaubt außerdem, dass Jack ihm einmal das Leben gerettet hat und fühlt sich deswegen in seiner Schuld. Zusätzlich erkennt er ihn als Schicksalsverwandten, da beide unter der Abwesenheit ihrer Eltern leiden. Augusts Mutter ist zwar körperlich präsent, aber so in ihren psychischen Schwierigkeiten gefangen, dass sie ihren Sohn kaum wahrnimmt, während Jacks Eltern aus Karrieregründen ständig um die Welt reisen. Dass sich die freundschaftliche Beziehung zwischen Jack und August am Ende in eine homoerotische Liebesbeziehung wandelt, lässt sich vor diesem Hintergrund beinahe schon als Klischée kritisieren: Auch ohne diese Wendung bestünde eine glaubwürdige Verstrickung zwischen beiden, weil sie ohne erwachsene Unterstützung unbedingt aufeinander angewiesen sind.

Verglichen mit der plastischen und lebendigen Beschreibung von Jacks Visionen und Augusts Bemühungen, den Freund zu unterstützen, ohne ihm in den Rücken fallen und ohne sich von ihm trennen zu müssen, wirkt das Ende insgesamt etwas zu glatt: Hier findet Ancrum mit Jacks Hirntumor, der erfolgreich operiert werden kann, einen unvorhergesehenen aber überzeugenden Ausweg aus der verfahrenen Situation und ermöglicht ihren Protagonisten so ein verdientes Happyend, das der Leser ihnen von Herzen gönnt, obwohl es neben der ansonsten sehr realitätsnahen Darstellung etwas zu märchenhaft wirkt. Ein sehr besonderer Roman, auf den man sich einlassen muss. Jungen, die sich für besonderes Design und grafische Gestaltung begeistern können, kommen hier ebenso auf ihre Kosten wie Fantasyfreunde.

Durch seine besondere Gestaltung ist der Roman besonders gut für Leser/innen geeignet, die künstlerische Interessen mitbringen und ggf. selbst zeichnen oder fotografieren. Hier ist auch sehr gut vorstellbar, ´Wicker King` als Vorlage für eigene künstlerische Projekte zu verwenden, z.B. im fächerübergreifenden Unterricht (Kunst/Deutsch).

Psychische Erkrankungen werden in ihren Auswirkungen auf den Betroffenen und sein Umfeld vielseitig und sensibel reflektiert. Der Roman eignet sich deswegen auch für die Verwendung in entsprechenden Selbsthilfegruppen oder er kann im therapeutischen Umfeld bearbeitet und als Gesprächsanlass eingesetzt werden. Selbstverständlich eignet er sich auch als Bestandteil von Bücherkisten zum Thema Inklusion/Psychische Erkrankungen.

Das literarische Niveau ist trotz der geringen Textmenge eher als anspruchsvoll einzuschätzen. Deswegen und auch wegen des durchaus ernsten Themas scheint es günstig, den Roman als Klassenlektüre eher in höheren Jahrgangsstufen (ab Klasse 9) zu wählen.