Buchcover Lois Lowry: Hüter der Erinnerung

Jonas lebt in einer zukünftigen, scheinbar idealen Welt – statt Krieg, Gewalt oder Armut regiert...

Rezension von Julia Fränkle-Cholewa

In einer Gesellschaft, die durch emotionslose Gleichheit dominiert wird, erheben sich der „Hüter der Erinnerung“ und sein Schüler Jonas gegen das Regime, um das längst vergessene Wissen der Menschheit zurückzuholen. Wird es Jonas gelingen, die Grenze zur Erinnerung zu überschreiten und die Menschen aus ihrer Gefühlslosigkeit zu reißen?

Ein spannender Roman um die Grundzüge dessen, was die Menschheit ausmacht – Emotion, Empathie und die Fähigkeit, zu lieben.

BuchtitelHüter der Erinnerung
AutorLois Lowry
GenreScience Fiction
Lesealter12+
Umfang256 Seiten
Editionenglischsprachiges Original: 1993. Deutsche Erstausgabe: 1994 (übersetzt von Anne Braun)
Verlagdtv
ISBN978-3-423-08642-4
Preis9,95 Euro

Jonas lebt in einer zukünftigen, scheinbar idealen Welt – statt Krieg, Gewalt oder Armut regiert absolute Gleichheit innerhalb der Gesellschaft. Durch eine Droge, die den Menschen regelmäßig verabreicht wird, kennen sie keinerlei Gefühlsregungen. Mit 16 Jahren wird jedem Mitglied eine bestimmte Aufgabe innerhalb der Gemeinschaft zugeteilt. Doch nur die intelligentesten und rechtschaffensten Menschen sind dazu bestimmt, als sogenannte „Hüter der Erinnerung“ das gesamte Wissen der Menschheit zu verwalten.

Erst durch den Unterricht bei seinem Lehrer, dem „Giver“ („Geber“), lernt Jonas Gefühle wie Freude, Traurigkeit und Liebe kennen. Je weiter Jonas und sein „Geber“ in das Wissen der längst vergangenen Gesellschaft eintauchen, desto mehr erkennen sie, dass ihre Gemeinschaft auf Lügen und Verbrechen beruht und sie beschließen, das System zu stürzen. Doch um die Menschen, die er zu lieben begonnen hat, zu retten, muss Jonas vor dem Rat der Ältesten und aus der Gemeinschaft fliehen – ein Unterfangen, das bislang niemandem lebend gelungen ist.

„Vater? Mutter?“, fragte Jonas etwas verlegen nach dem Abendessen. „Ich würde euch gerne etwas fragen.“

„Was denn, Jonas?“, fragte sein Vater.

Jonas zwang sich auszusprechen, was ihm auf der Seele brannte, obwohl er sich innerlich vor Verlegenheit wand. Auf dem ganzen Heimweg hatte er sich diese Worte zurechtgelegt.

„Liebt ihr mich?“

Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Dann lachte sein Vater amüsiert auf. „Jonas. Ausgerechnet du! Präziser Sprachgebrauch, wenn ich bitten darf!“

„Wie meinst du das?“, fragte Jonas. Mit Ironie vonseiten seines Vaters hatte er am wenigsten gerechnet.

„Dein Vater meint, dass du einen sehr allgemeinen Begriff verwendet hast, so bedeutungslos, dass er fast schon veraltet ist“, erklärte seine Mutter nachsichtig.

Jonas starrte sie an. Bedeutungslos? Noch nie war ihm etwas so bedeutend vorgekommen wie das Gefühl, das diese Erinnerung in ihm geweckt hatte.
„Und wie du weißt, kann eine Gemeinschaft nicht reibungslos funktionieren, wenn die Bürger nicht darauf achten, sich präzise auszudrücken. Du könntest zum Beispiel fragen: ‚Freut ihr euch, dass ihr mich habt?‘ Die Antwort wäre ‚Ja‘“, erklärte Mutter weiter.

„Oder“, meldete sich Vater, „du könntest fragen: ‚Seid ihr stolz auf meine guten Schulleistungen?‘ Auch dann würden wir mit voller Überzeugung ‚Ja‘ sagen.“

„Verstehst du jetzt, warum es unpassend ist, ein Wort wie ‚lieben‘ zu verwenden?“, fragte Mutter.

Jonas nickte. „Ja, danke, ich verstehe“, sagte er langsam und gedehnt.
Das war die erste Lüge seinen Eltern gegenüber.

Seite 191-193

Die Gesellschaft, in der der 16-jährige Jonas aufwächst, hat das erschaffen, wovon die Menschen lange träumten: Eine Gemeinschaft, in der es dank absoluter Gleichheit weder Hunger, Schmerz oder Angst gibt. Jedem Individuum steht ein bestimmter Platz in der Gesellschaft zu, jeder erfüllt die ihm zugeteilte Aufgabe zum Wohle der Gesellschaft. Doch die Menschen ahnen nicht, welchen Preis sie dafür bezahlen: Absolute Gefühlslosigkeit und keine Erinnerung an das, was vor ihrer Gesellschaft war.

Wie alle anderen Jugendlichen erwartet auch Jonas, am Tage der Zeremonie zu einem Essensausgeber, Säuglingspfleger oder Arzt bestimmt zu werden. Doch stattdessen soll er die ehrenwerteste Position innerhalb der Gesellschaft einnehmen – „Der Hüter der Erinnerung“. An der Seite seines Lehrers, des „Givers“, taucht Jonas Schritt für Schritt in die Erinnerungen der Menschheit ein. Er sieht, wie das Leben vor der totalen Gleichschaltung aussah, lernt Jahreszeiten, verschiedene Hautfarben und letztlich auch Gefühle kennen. Und er beginnt sich mehr und mehr zu fragen, ob seine Welt wirklich so ideal ist, wie der Rat der Ältesten die Menschen glauben lassen möchte.

Als wichtige Helferfiguren auf Jonas‘  Weg erscheint dabei nicht nur der „Giver“, sondern auch Jonas‘ Kindheitsfreundin Fiona, zu der er sich mehr und mehr hingezogen fühlt. Er versucht, ihr das Gefühl der Liebe zu zeigen und bringt sie und sich selbst damit in größte Gefahr. Denn ein Regime, in dem vollkommene Gleichschaltung herrscht, benötigt auch strenge Regeln. Wer diese Maxime nicht befolgt, wird ins Anderswo verbannt.

Anhand des Erkenntnisprozesses, den Jonas durchläuft, beginnt auch der Leser zu bergreifen, was es bedeutet, in einer vollkommen gleichgeschalteten und gefühllosen Gesellschaft zu leben. So schafft es der Text, den Leser zur genauen Lektüre und damit zur kritischen Distanz gegenüber des Gesellschaftssystems aufzurufen. Der 16-jährige Protagonist fungiert dabei als ideale Identifikationsfigur für den jugendlichen Leser, da Jonas zu Beginn der Erzählung dem System genauso unvoreingenommen gegenübersteht wie der Rezipient. Je mehr Gefühle Jonas im Verlauf des Erinnerns kennen lernt, desto näher rückt er dem Leser, desto nachvollziehbarer werden seine Handlungen und Gedanken.

Neben der Wichtigkeit von Emotionen, thematisiert „Hüter der Erinnerung“ auch die Bedeutung von Individualität für einzelne Menschen und die gesamte Gesellschaft. Auf Jonas‘ Frage, weshalb es wichtig sei, schreckliche Erinnerungen an Krieg, Hunger oder Schmerz aufzubewahren, antwortet der „Giver“, dass nur diese Erinnerungen es fertig brächten, die Menschen weise zu machen.

Mit einer Leseempfehlung von ab 12 Jahren richtet sich „Hüter der Erinnerung“ an ein vergleichsweise junges Zielpublikum. Dem wird die Autorin durch einen einfachen, klaren Schreibstil gerecht. Mit einer durchschnittlichen Kapitellänge von 13 Seiten und einem Gesamtumfang von 256 Seiten ist das Buch auch für ungeübtere Leser überschaubar. Das Schriftbild ist großzügig und ansprechend gestaltet.

Das Cover der aktuellen Ausgabe zeigt die Hauptdarsteller des gleichnamigen Kinofilms von Phillip Noyce und lädt durch ein nachdenkliches Setting und klare Schriftführung zu einem emotionalen Leseerlebnis ein.

Insgesamt betrachtet ist „Hüter der Erinnerung“ eine klassische Dystopie mit Elementen des Coming of Age. Neben einer sympathischen Hauptfigur, bietet der Roman sozialkritische Themen und einen soliden Spannungsbogen. Möglicherweise fehlt es zu Beginn ein wenig an Dynamik, da das gesellschaftliche Leben zunächst sehr harmonisch daherkommt. Doch dann nimmt die Erzählung zügig an Fahrt auf und der Leser kann an der Seite von Jonas die längst vergessenen Erinnerungen und Geheimnisse der Menschheit ergründen. Je mehr Erinnerungen der „Giver“ mit Jonas und dem Leser teilt, desto mehr bröckelt die scheinbar ideale Fassade des Regimes.

Mit ihrer Version einer vermeintlich perfekten Welt schrieb Lois Lowry eines der wohl bedeutendsten sozialkritischen Jugendbücher der Zeit – und das lange bevor der Dystopie-Trend auch den deutschen Buchmarkt erfasste. Was das Buch letztlich so einprägsam macht, ist die eher kindliche Erzählweise, wodurch die Enthüllungen durch den „Giver“ umso schockierender wirken. Denn letztlich kann die Gleichheit und das dadurch erzeugte, scheinbare Glück nicht verhüllen, was die Menschheit dafür aufgegeben hat: Das Wissen um die Bedeutung des Wortes „Liebe“.

„Hüter der Erinnerung“ bietet sowohl Identifikationsfiguren für jugendliche Leser als auch gesellschaftlich relevante Themen. Daher dürfte es lohnenswert sein, anhand des Buches erste sozialkritische Reflexionen im privaten und schulischen Umfeld anzugehen.

Da das Buch bereits 1993 erschien, aber 2014 durch den gleichnamigen Kinofilm neu aufgelegt wurde, wäre eine vergleichende Betrachtung von Romanvorlage und Buch mit jugendlichen Lesern interessant. Weiterhin dürfte die Verfilmung einen lesemotivierenden Einfluss haben, da emotionale Handlungsaspekte geschickt mit moralischen Überlegungen verknüpft werden.

„Hüter der Erinnerung – The Giver“ erschien 2014 als Kinofilm von Regisseur Phillip Noyce und weist eine Starbesetzung durch Meryl Streep, Jeff Bridges, Katie Holmes und Taylor Swift auf. Der Film ist auf DVD und Blu-Ray erhältlich.

Auf der Website www.lehrer-online.de gibt es unter anderem ein kostenloses Unterrichtsmodell zum Buch, welches einfach heruntergeladen und nach individuellen Ansprüchen gebraucht werden kann. Darin finden sich zum Beispiel Aufgaben zu Themenaspekten wie „Die Gemeinschaft und ihre Formen der Kontrolle“ oder „Bilder – Wörter – Gefühle“.