Buchcover David Lampson: Vom Finden der Liebe und anderen Dingen

Joes großes Vorbild, sein bester Freund und Weggefährte zugleich, ist sein Zwillingsbruder Alvin....

Rezension von Katharina Nennstiel

Joes großes Vorbild, sein bester Freund und Weggefährte zugleich, ist sein Zwillingsbruder Alvin. Erscheint die Welt für Joe unverständlich und kompliziert, so ermöglicht sein Bruder ihm die Dinge zu durchdringen und Zusammenhänge zu begreifen. Bis zu dem Tag, an dem Alvin sich in Julia verliebt und mit ihr zusammen durchbrennt. Nach längerer Zeit ohne Kontakt taucht Alvin unverhofft wieder in Joes Leben auf...

BuchtitelVom Finden der Liebe und anderen Dingen
AutorDavid Lampson
GenreComing of Age
Lesealter14+
Umfang238 S. (engl.); 222 S. (dt.)
Edition2013
VerlagOetinger
ISBN978-1595143402 (engl.); 978-3-7891-4181-2 (dt.)
Preis7,97 € (engl.); 14,95 € (dt.)

Joes großes Vorbild, sein bester Freund und Weggefährte zugleich, ist sein Zwillingsbruder Alvin. Erscheint die Welt für Joe unverständlich und kompliziert, so ermöglicht sein Bruder ihm die Dinge zu durchdringen und Zusammenhänge zu begreifen. Bis zu dem Tag, an dem Alvin sich in Julia verliebt und mit ihr zusammen durchbrennt. Nach längerer Zeit ohne Kontakt taucht Alvin unverhofft wieder in Joes Leben auf, berichtet dass seine Beziehung in die Brüche gegangen ist und überredet Joe mit ihm die Welt zu umsegeln. Doch am nächsten Tag ist Alvin verschwunden. Joe begibt sich in der ganzen Stadt auf die Suche nach seinem Bruder, trifft dabei zufällig auf Julia, welche auch nach Alvin Ausschau hält. Joe verguckt sich in Julia, geht mit ihr in ihre Heimatstadt Tennessee und findet dort die Liebe, seinen ersten Job, einen guten Freund, aber vor allem die Wahrheit. Joe lüftet das Geheimnis um das Verschwinden seines Bruders und trifft in Folge dessen eine Entscheidung, die erneut sein Leben umkrempelt und in eine andere Bahn lenkt.

Dann erklärte ich mein spezielles Problem mit dem Essen und dass ich nur Pizza und Cheeseburger und das schlimmste, ungesündeste Schrottessen essen konnte. Houston hörte aufmerksam zu und beschloss, das Problem auf der Stelle anzupacken, gleich da im McDonald’s. Er schnitt ungefähr ein Viertel seines Chicken-Sandwiches ab, schlug es in eine Serviette ein und gab es mir.
>> Versuch doch mal davon was.<<
>> Meistens mag ich Huhn nicht.<<
>> Kann ja sein, aber lassen wir das mal außer Acht. Tun wir so, als wäre das etwas, das du noch nie probiert hast.<<
Es sah tatsächlich aus wie in einem Werbespot für das Chicken-Sandwich von McDonald’s, es glänzte ein bisschen und so, und zwischen den Brotscheiben kamen kleine Tropfen Mayonnaise raus. Ich biss ein Stückchen ab. Ich hatte keine Ahnung, was ich erwarten sollte, weil es schon ein paar Jahre her gewesen war, seit ich versucht hatte, Huhn zu essen. Aber vielleicht hatte ich mich ja verändert, vielleicht auch das Huhn, denn es war dann gar nicht so schlecht. Bei den ersten Bissen versuchte ich, nicht zu atmen, doch dann merkte ich, dass der Geschmack mich gar nicht störte. Es war, als hätte ich Chicken-Sandwiches schon immer gemocht, es aber nur zehn Jahre lang vergessen.
>>Na, siehst du<<, sagte Houston. >> Geht doch.<<
>> Wahrscheinlich fällt es mir mit dem Essen von McDonald’s leichter.<<
>> Vielleicht. Aber das ist schon mal ein Anfang.<<
Ja, das war der Anfang. Ich wusste, es würde nicht leicht werden, und ich wusste, es würde lange dauern. Aber wenn ich das Huhn essen konnte, konnte ich alles essen.

(S.138-139)

Der Ich-Erzähler in seiner Welt
Joe sieht die Welt mit seinen eigenen Augen und tickt anders als sein Umfeld. Er wirkt einfach strukturiert und naiv, dabei aber gleichzeitig gutmütig und liebenswert. Diese Charaktereigenschaften und die jahrelange Abhängigkeit von seinem Zwillingsbruder führen dazu, dass Joe noch keine alterstypische Normabgrenzung entwickelt hat. Durch seine Gutgläubigkeit lässt er sich schnell von Ansichten überzeugen und ist wenig kritisch reflektiert. Umso deutlicher zeigt er Solidaritäts-Bemühungen, wenn nicht sogar uneingeschränkte Solidarität gegenüber Alvin. Joe akzeptiert alle Entscheidungen seines Bruders und unterstützt ihn in allen Belangen, sogar wenn dieser ihm die skurrilsten Dinge abverlangt, wie z.B. mit ihm spontan zu einer Weltumsegelung aufzubrechen. Der Einfluss seines Bruders ist ebenfalls Grund für eine ‚induzierte‘ Verweigerungshaltung, die Joe gegenüber seines großen Bruders Marcus entwickelt. Alvin hatte noch nie eine gute Beziehung zu Marcus und rebelliert auf allen Ebenen gegen ihn und seine Lebensvorstellungen. Joe übernimmt diese Haltung, obwohl er bisher problemlos mit Marcus ausgekommen ist und vertraut blind auf Alvin.
Dieses Vertrauen lässt Joe in seinen alternativen Lebensentwurf mehr oder weniger ‚hineinschlittern‘. Eine einzige bewusste Entscheidung seinerseits, mit Julia nach Tennessee zu gehen, legt den Grundstein für eine um 180° gedrehte Zukunft als Poolwart im Hotel von Julias Familie. Joe befreit sich während seiner Zeit mit Julia unbemerkt aus einer Abhängigkeit zu Alvin und erlangt immer mehr neue Fähigkeiten. Er lernt lesen und schwimmen und erfährt wie es ist zu Arbeiten und eine Freundin zu haben. Nach und nach leuchtet Joe ein, wie sehr ihm sein durch Zufälle entstandener Lebensentwurf gefällt. Joe zeigt ein von Grund auf ehrliches und sehr offenes Kommunikations-Verhalten. Er unterhält sich bereitwillig mit unterschiedlichen Personen in seinem Umfeld, wenngleich er nicht oft von selbst auf diese zugeht. Er ist schnell überfordert und schaltet dann ab, was immer wieder verschiedene Stellen des Romans zeigen. Die deutlichste Situation ist wohl das Zusammentreffen zwischen Joe und Julias Mutter, die ihn mit so vielen subjektiv geprägten Informationen, Eindrücken und Haltungen überfrachtet, dass sie ihn „auf diesen schlimmen, aufgewühlten Tilt [bringt]“ und er „auf einmal...ganz dringend raus [muss]“.(S.169)

Verstehen durch Erzählen
Joes mentale Ausgangslage ist eher die eines Kindes – es wirkt so, als ob er sich kognitiv und emotional seit dem Tod seiner Eltern nicht mehr weiterentwickelt hat. Joe ist somit auf dem Stand eines Achtjährigen stehen geblieben und betrachtet die Welt mit seinem kindlich-naiven Blick. Joe ist ein begnadeter Basketballspieler und wird für sein Talent vor allem von seinem großen Bruder Marcus beneidet. Jedoch nutzt ihm sein Hobby nicht, um aus seiner Außenseiterrolle herauszutreten. Er fokussierte sich seit jeher auf seinen Zwillingsbruder und als dieser dann „weg war, wurde [sein] Leben so langweilig, dass [er] sich kaum erinnern kann, was [er] in jener Zeit tat.“ (S.6) Als Joe anfängt sein Leben mit Julia im Hotel ihrer Eltern zu verbringen, fängt er an viele Dinge aufzuholen und Fähigkeiten zu erlernen, die für einen Jugendlichen in seinem Alter eigentlich als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Trotzdem hat der Leser immer noch das Gefühl, dass der Protagonist einige Jahre in seiner Entwicklung zurück geblieben ist. Die Passagen des Romans, in denen Joe mit seinem verschwundenen Bruder kommuniziert, bieten viel Interpretationsfreiraum. Spricht Joe in Gedanken mit Alvin, um über den Trennungsschmerz hinweg zu kommen? Existiert Alvin in der Realität gar nicht, sondern ist bloß eine Erfindung von Joes Phantasie?
Joe reflektiert sich während des ganzen Romans nur selten selber, an den ein oder anderen Stellen wird jedoch seine Selbstwahrnehmung deutlich: „Es war nicht besonders schwierig, mich zu überzeugen. Ein Argument reich bei mir meistens, egal, worum es geht.“ (S. 102) Joe ist sich seiner Naivität bewusst, hinterfragt das aber nicht weiter. In seinem Bewerbungsgespräch für den Job im Hotel gesteht er sich seine größte Schwäche ein: „Ich bin fast die meiste Zeit ziemlich verwirrt.“ (S.106) Joe kann sich oberflächlich gut selber einschätzen, kümmert sich aber nicht um tieferlegende Zusammenhänge, passend zu seiner mentalen Ausgangslage. Im Verlauf des Romans findet Joe seine erste große Liebe und verliert sie auch wieder, er geht von zu Hause weg, findet seinen ersten Job, verliert seinen Zwillingsbruder und wird, bei dem Versuch ihn zu rächen, letzten Endes zum Mörder. In Anbetracht dieser Tatsachen, wird gegen Ende der Erzählung ein großes erreichtes Verständnisniveau deutlich, in dem Joe klar wird: „alles würde nie mehr sein wie früher, auch wusste ich, dass darin eine Lektion lag...“ (S. 222).

Formale Aspekte
Das Cover der deutschen Übersetzung ist weiß mit roten, graffiti-ähnlichen Titelworten und einem kleinen Bild von Julia im Auto. Das Zitat, mit welchem der Klappentext eingeleitet wird („Das Leben ist so voller unmöglicher Dinge, die ich nicht begreife.“) beschreibt auf den Punkt gebracht den Charakter des Protagonisten und gibt bereits Hinweise auf die unglaublichen Geschehnisse des Romans.
Die Kapitellänge ist mit den durchschnittlich 30 Seiten länger als in so manchen anderen Jugendromanen, aber die Stimmigkeit jedes Kapitels in sich und der aufrecht erhaltene Spannungsbogen tragen zur Lesefreundlichkeit bei. Die sprachliche Komplexität passt sich der mentalen Ausgangslage des Protagonisten an und ist dementsprechend einfach und eingängig. Viele Dialoge und kurze Satzstrukturen machen die Erzählung aus dem Leben eines Jugendlichen authentisch. Auf sprachlicher Ebene stellt die Verständlichkeit von Lampsons Werk keine große Herausforderung da.

Zusammenfassende Bewertung und Fazit:
Die Herausforderung, welche „Vom Finden der Liebe und anderen Dingen“ an den Leser stellt, liegt vor allem in den poetischen Leerstellen, die dieser Roman bietet. Sei es die Frage, ob Alvin nun real existiert oder ein Produkt von Joes Phantasie ist, oder das Rätsel um das Verschwinden der Eltern der Zwillinge, Lampson bietet in seiner Erzählung so manche Erklärung, die den Leser stutzig macht und zum Nachdenken anregt. Durch den eigenartigen Erzählstil aus Sicht eines sehr einfach strukturierten Jugendlichen, entsteht eine ganz andere Perspektive auf den Lauf der Dinge. Alltägliche Probleme eines Heranwachsenden, wie Liebe, Freundschaft, Loslösung von zu Hause, Identifikation und Trennungsschmerz werden auf einzigartige Weise thematisiert und die kindlich-naive Sichtweise des Protagonisten bringt es auf den Punkt: Egal was kommen mag, das Leben geht trotzdem irgendwie weiter. Diese Erkenntnis ist essentiell für Heranwachsende und Lampsons Werk bietet die Möglichkeit auf literarischem Wege zu ihr zu gelangen.

Geeignet für individuelle Heimlektüre für Jungen ab Klasse 8.